Leiden ist scheisse.

von | Sep 9, 2014 | Allgemein, Archiv 2014 | 0 Kommentare

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Leiden ist scheisse.
Berlins erste Vinylpredigt.

Fünfzehn Menschen der gehobeneren Altersklasse sitzen auf Stühlen und Sofas und lauschen. Ein andächtig rhytmisches Kopfnicken hier, ein dezentes Fusswippen dort, Musik läuft. Was ist passiert? Ist man hier der finalen Erkenntnis erlegen dass der faltige Hintern endgültig das Tanzverbot gebietet? Falsch. Haru Specks aka Diethelm Kröhl hält in Berlin seine, für die Stadt erste Vinylpredigt. Wer wie ich der Meinung ist dass man durchaus am Sonntagmorgen in die Kirche gehen könnte, so der Mann auf der Kanzel auch etwas zu sagen hätte, der wird hier, nicht nur der Form halber, fündig.

Specks zelebriert seine Predigt zum Thema ‚Leiden ist Scheisse‘ und unterlegt seine Rede mit dreizehn Hörbeispielen unterschiedlichster Zeiten und Genres.
Schon der erste Beitrag von Napalm Death „You Suffer (But Why)“ malt der Zuhörerschaft ein Grinsen auf die Lippen, ist dieses musikgeschichtlich rekordverdächtige Stücklein doch nur eine Sekunde lang und wurde im Erscheinungsjahr 1987 von John Peel dutzendfach hintereinander gespielt und abgefeiert. Zu hören ist nur ein knurrender, aufbrummender Gitarrenriff und aus. Specks nimmt nun den Titel des Tracks zum Anlass um sein Thema langsam auszufalten. Er redet über Ängste, Depressionen, nennt Zahlen, Anlässe, lässt Anekdoten einfliessen und wickelt sein Publikum mit gut gesetzter Hintergrundsinformation in eine wohlige Gemeinschaftserfahrung um zum Ende hin bei Revolution und Gegenwehr zu enden.

Das ihm dies so einfach gelingt ist umsomehr erstaunlich, da die angespielten Stücke aüsserst gängige Gassenhauer sind. Radiohead, Walker Brothers und Curtis Mayfield werden in einem grösseren Zusammenhang vorgestellt. Bekanntes neu erfahrbar zu machen ist jetzt nicht Specks eigene Erfindung, dennoch errobert er in seiner breiten Spanne zwischen bübisch schüchternem Verhaspeln und vollmundiger Behauptung seine Gemeinde ohne Gegenwehr.

Jetzt könnte man natürlich relativ einfach unterstellen, hier tratschen nur Nerd und Nerd über ihre Schätzchen, was solls? Zugegebenermassen hätte ein anwesender Jüngerer mit dem Angesprochenen möglicherweise Schwierigkeiten, aus mangelnder Fachkenntniss heraus dem Fluss nicht folgen könnend oder einfach weil er die Musik nicht mag. Dies ist aber nur eine These und liesse sich schnell widerlegen, denn auch der Mann aus dem Häuschen mit dem Kreuz drauf arbeitet mit Beispielen die nicht notwendigerweise allen Anwesenden zu eigen sind. Auch der Pfarrer sucht die Gelegenheit seine Herde unter höheren Zusammenhängen zu einen, spricht Probleme an und bietet vermeindlich sinnfällige Lösungen. Zwischendurch lässt er sie gemeinsam singen (was bei Specks Predigt Gott sei Dank nicht der Fall war), und bittet zum Schluss um eine Kollekte. Ein Hut wurde auch bei dieser Veranstaltung gereicht, für Specks eher ein ungewöhnlicher Fall da er für seihe Reihe normalerweise Geld verlangt – denn, so der Prediger: „Wenn man für etwas bezahlt, hört man auch zu“. Dies Wort in Gottes Gehör. Wer nicht dabei war hat was Neues verpasst. Amen.

Der aus Süddeutschland stammende und schon seit längerem in Düsseldorf arbeitende Haru Specks hat sich in seiner Wahlheimatstadt schon seit Jahren einen Namen als Dj gemacht. 2012 war er als lebende Jukebox in aller Munde, im letzten Jahr mehrte er seinen Ruhm mit seinen Vinylpredigten zu so illustren Themen wie „Prometheus. Die Götter sind gierig“, „Energie. Die Illusion der ständigen Beschleunigung“ oder „I want to be a machine“ . Haru Specks nennt sich Schallplattenaufleger und tritt in Galerien, Plattenläden und Retaurants auf. Das ist nicht nur intelligent, das ist gut.

Pop, Riemannstrasse 5, 05.04.2014
Zum Thema „Leiden ist scheisse“ waren zu hören:

Napalm Death – You Suffer (But Why)
Blumfeld – Testament Der Angst
Radiohead – How To Disappear Completely
Nina Simone – Ain’t Got No / I Got Life
Walker Brothers – The Sun Ain’t Gonna Shine Anymore
Flaming Lips – Mr. Ambulance Driver
Lambchop – Up With People
American Music Club – Ladies And Gentlemen
Curtis Mayfield (Don’t Worry) If There’s A Hell Below We’re All Going To Go
Gil Scott-Heron – The Revolution Will Not Be Televised
Sly & The Family Stone – There’s A Riot Going On
Tears For Fears – Sowing The Seeds Of Love
Marvin Gaye – What’s Going On

haruspecks
http://vinylpredigt.wordpress.com/vinylpredigt-manifest/

raabe