Rewind: Klassiker, neu gehört – The Human League – Reproduction (1979)

Rewind: Klassiker, neu gehört
The Human League – Reproduction (1979)
Das Filter – Gespräch: Thaddeus Herrmann, Martin Raabenstein vom 18.03.2019

Nachdem Kraftwerk die britischen Motorways hoch und runter gefahren waren, begann die Jugend auch in Sheffield Ende der 1970-Jahre damit, dem Punk das Filter abzudrehen. Mittendrin: Martyn Ware und Ian Marsh, die als „The Future“ ebenjene Zukunft mit Synthesizern suchten. Wie die klingt, weiß man ja nie so genau. Gemeinsam mit dem Sänger Phil Oakey nahmen sie als The Human League den Klassiker „Being Boiled“ auf und fanden sich danach mit Major-Vertrag im Studio wieder, um ihr erstes Album aufzunehmen. „Reproduction“ floppte, wie das Album einer außerhalb Sheffields praktisch unbekannten Band mit tatsächlich futuristischer, aber nischiger Single nur floppen kann. Zwei Jahre später trennte sich das Trio. Oakey behielt den Namen der Band und wurde Popstar, Ware und Marsh gründeten Heaven 17 und taten es ihm gleich. „Reproduction“ gilt bis heute dennoch als tragende Säule der elektronischen Musik, made in Sheffield. Warum eigentlich? Fragen sich auch Martin Raabenstein und Thaddeus Herrmann. Denn während Cabaret Voltaire die poröse Gegenwart der nordenglischen Stadt in sägendes Sound Design verpackten, entwickelte sich bei The Human League ein popmusikalisches Konstrukt, das – wenn überhaupt – nur noch ob der Dystopie-informierten Texte nach Zukunft riecht. Ist dieses Album nun ein viel zu früh totgetrampeltes und missverstandenes zartes Pflänzchen der elektronischen Musik oder doch nur ein überhasteter Versuch, es allen recht zu machen?

Martin Raabenstein: „Reproduction“ ist ein Album, das hervorragend zu meiner These passt: Die besten 80er-Alben stammen aus den 70ern. Die waren meiner Meinung nach nämlich erst 1983 zu Ende. Spannend auch das Erscheinungsdatum – 1979, das Jahr des Amtsantritts Margaret Thatchers. Ihr glühender EU-Skeptizismus, der heute, vierzig Jahre später, noch zynisch mit schwelenden Wunden spielt, ist der eine, unverzeihliche Fehler der konservativ-irren Wuchtbrumme. Wie sie hingegen mit ihrem eigenen Land umging, vor allem dem Norden, ist irreparabel. Liverpool, Manchester, Leeds und Sheffield, die einstigen Industriegrößen des Vereinten Königreiches gingen zu Boden – Massenarbeitslosigkeit war die Folge. In diesem zutiefst rauen Klima entsteht der erste Release der Band. Sind die Briten nur gut, wenn es ums Kämpfen geht?

Thaddeus Herrmann: Sind sie denn jetzt aktuell auch wieder besonders gut?

Martin: Heute? Das ist für mich kein Kampf. Kulturelles Desinteresse und fehlgeleitetes politisches Kalkül umschleichen sich hier in einer üblen Scharade. So sehr ich den Begriff „Der kleine Mann“ auch hasse – dieser ist der Leidtragende, damals wie heute. Musikalisch spiegelte sich das vor 40 Jahren sicherlich um einiges deutlicher wieder. Dystopie und Science-Fiction waren wichtige Einflüsse – die kleine Flucht in übergroße, dunkle oder ferne zukünftige Welten. „Empire State Human“ ist da ein gutes Beispiel. Details »

Rewind: Klassiker, neu gehört – Joy Division – Unknown Pleasures (1979)

Rewind: Klassiker, neu gehört
Joy Division – Unknown Pleasures (1979)
Das Filter – Gespräch: Thaddeus Herrmann, Martin Raabenstein vom 04.02.2019

43 Songs, vier Singles, drei EPs, zwei Alben und gut 120 Konzerte: Das ist die viel zu kurze Geschichte von Joy Division – abgearbeitet in nur 29 Monaten im Zeitraum zwischen 1978 und 1980. Dann, am 18. Mai 1980, erhängte sich Ian Curtis, der charismatische Sänger der Band, einen Tag, bevor er mit seinen Mitmusikern zur ersten USA-Tour aufbrechen sollte. Ein perfekter Mythos für die nach Orientierung suchende Post-Punk-Jugend des runtergekommenen British Empire. Der Bogen in die Gegenwart könnte offensichtlicher nicht sein. Am 20. Juli 1976 besuchten die beiden Schulfreunde Bernhard Sumner und Peter Hook das Sex-Pistols-Konzert in der Lesser Free Trade Hall in Manchester, kauften sich Instrumente und gründeten die Band „Warsaw“. Curtis war als Sänger schnell dabei und nach einem personellen Gerangel war die finale Besetzung mit Drummer Stephen Morris schließlich komplett. Unter dem neuen Namen Joy Division begründete das Quartett die Manchester-Musiktradition und die Legende rund um ihr Label Factory Records. Die großen Hits „Love Will Tear Us Apart“ und „Atmosphere“ spielen im dystopischen Klangkosmos der Band dabei nur eine von vielen Rollen – dem wahren Sound der Musiker werden diese Songs nur bedingt gerecht. Und sind beide nicht auf dem Debütalbum „Unknown Pleasures“ zu finden – aufgenommen von Martin Hannett im April 1979 im Strawberry Studio in Stockport – dieser nicht minder unwirtlichen Stadt, knapp zehn Minuten mit dem Zug von Manchester entfernt. Und heute? 40 Jahre später? Fahren Martin Raabenstein und Thaddeus Herrmann zwar nicht nach Manchester (Budget-Probleme!), um ganz nah dran zu sein, fragen sich aber, wie hell das vermeintliche Meisterwerk heute noch strahlt.

Martin Raabenstein: Der von uns erst kürzlich besprochene Nick Drake hatte es zu Lebzeiten wenigstens auf drei Alben gebracht, Ian Curtis nur auf eines. Bevor das zweite Joy-Division-Album „Closer“ erschien, war er, dreiundzwanzigjährig, schon tot. Melodrama, Paranoia und Depression, die ureigenen Ingredenzien für eine durchwachsene Mythenbildung. Der unerbittliche Nerd muss die Lyrics von „Unknown Pleasures“ nicht lange durchwühlen, um auf zielführende Hinweise zu stoßen. Bei „Insight“ heißt es unter anderem „But I don’t care anymore, I’ve lost the will to want more, I’m not afraid at all …“. Was machst du, wenn dein best buddy solche Lyrics ausstößt, vor allem in solch düsteren, grau verschlierten No-Future-Zeiten, wie Ende der Siebziger? Holt man den Arzt, kramt Mamas kleine Helferlein-Pillen raus?

Thaddeus Herrmann: Ich kenne Manchester ganz gut, auch bereits vor dem Bombenanschlag. Mich wundert das alles nicht besonders. Der Norden des Landes hatte den Kampf verloren. Das ist auch der Grund, warum die lokalen Szenen – die in Manchester wurde ja praktisch durch Joy Division begründet, zumindest was die Wahrnehmung auf der globalen Karte der Post-Punk-Popkultur angeht – sich auch bewusst abgrenzten gegen London. Manchester, Sheffield, Leeds: Der Sound mag unterschiedlich sein, das Phänomen ist aber ganz ähnlich. Die Einflüsse dürften überall die selben gewesen sein. Details »