
Hängengeblieben 2018
Unser großer Jahresrückblick
Das Filter – Die Raabenstein Beiträge vom 21.12.2018
Ein Sommer ohne Märchen, eine AKK ohne 4711 auf dem Dancefloor, Daten ohne Schutz aber mit Verordnung und jede Menge Ehrenmänner in der Heißzeit des Jahrhunderts: alles in 8K und 5G. Wie auch die letzten Jahre gibt es dieses Jahr den großen Das-Filter-Jahresrückblick. Was ist hängengeblieben von 2018? Wie immer subjektiv, perspektivisch und independent erklären unsere Autoren und Redakteure, was ging in den Bereichen Musik, Kultur, Technik, Gesellschaft und Medien. Auf ein gutes 2019. Euer Das-Filter-Team.
Diesel
Nirgends lässt sich das ewig absurde Ringelreihen zwischen Politik und Wirtschaft besser beschreiben als in der immer noch aktuellen Dieselaffäre. Die Regierung gibt neue Abgaswerte vor, der Firma Bosch gelingt die Konstruktion feinsinniger Apparate diese Reglementierungen zu umgehen, die Täuschung fliegt auf. Anstatt diesen Moment ernst zu nehmen, wird weiter getarnt, getäuscht und bezichtigt, als wäre die sofortige Findung pseudo-intelligenter Schuldzuweisungen die einzig mögliche Geistesleistung aller Beteiligten. Zugegeben, hier geht es um mächtig große Summen, die, wie schon bei vielen vorhergegangenen Skandalen, nur in den Taschen der Steuerzahler zu finden sein werden. Jetzt folgen Fahrverbote, Entschädigungsforderungen und ein Ende der Farce ist nicht in Sicht. Allen großen Automobilkonzernen liegen die Pläne für Dieselmotoren vor, die die aktuellen Maximal-Werte weit unterschreiten, der Diesel aber ist gerade verbrannt. Jetzt werden erstmal Benziner gepusht, und wenn sich der Staub gelegt hat, so denkt man, kann man die Archive wieder einen Spalt öffnen.
Grün
Es grünt so grün wenn Politikerträume blühn. Im vierten Jahrzehnt ihrer Existenz waren die Grünen im absoluten Umfragerausch, die Regierungsübernahme schien greifbar, selbst eine Kanzlerschaft nicht auszuschließen. Die Euphorie hat sich wieder abgekühlt, aber dennoch, was lange gereift und durch verschiedenste Häutungen nun endlich im Bewusstsein der deutschen Wählerschaft angekommen ist, kann nicht nur im schwarzen Bayern punkten, auch im Nachbarland Baden-Württemberg zeigt der ökologisch aufgemuskelte Kosmopolit auf zukünftige und notwendige Änderungen und Visionen. Fatal an dieser konstruierten Zielgeraden ist nur, dass auch die Gegenseite des politischen Spektrums nicht nur massiv aufgerüstet hat, sich vielmehr sehr effektiv wildernd der selben Strategien politischer Meinungsbildung bedient. Wer glaubt, man müsse nur mit erhobenem Finger auf Logik und Wissenschaft verweisen, um grundlegende gesellschaftliche Umwandlungen herbeizuführen, muss nur ganz kurz über den Zaun nach Frankreich blicken. Müll zu trennen und diesen gegebenenfalls sogar drastisch zu reduzieren, ist etwas essentiell anderes, als die langfristig notwendige Trennung vom eigenen Auto durchzusetzen. Die Franzosen errichten gerade Barrikaden auf den Champs-Elysées, das machen sie gerne. Soweit wird es auf dem Kurfürstendamm nicht kommen – eine intelligente und bürgernahe Heranführung an diese explosiven Themen hingegen ist dringend anzuraten, um der Rechten unseres Landes nicht zusätzlichen Brennstoff auf deren Fackeln zu gießen. Inzwischen geht es in Frankreich um mehr als nur als die Steuern auf Benzin. On vera.
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Published on 21/12/2018 15:56.
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Mitgehört: Musik aus dem Filter-Schwarm
Heute: Andrea Gercken, Markenberaterin
Das Filter – Interview vom 17.12.2018
In seiner Kolumne „Mitgehört“ befragt Martin Raabenstein ganz unterschiedliche Menschen, was sie musikalisch umtreibt. Von prägenden Momenten bis zu aktuellen Highlights: Die Jukebox des Filter-Schwarms wird mit jeder Folge bunter. Heute: die Markenberaterin Andrea Gercken.
Magst du dich kurz vorstellen?
Ich bin in München geboren und trage daher die Berge und das so genannte „Münchner Gfühl“ in meinem Herzen. In Berlin lebe ich seit vier Jahren und arbeite als selbstständige Beraterin und Strategin. Ich helfe Kunden dabei, ihre Markenbotschaft im Digitalen ihrer gewünschten Zielgruppe näher zu bringen und berate sie, wie man eine Produktidee überhaupt zu einer Marke machen kann, was Storytelling heutzutage bei so vielen Kanälen eigentlich bedeutet und wie man es umsetzt. Ein sehr vielseitiger Beruf, der manchmal unfassbar anstrengend ist – aber dafür wird es einem nicht langweilig!
Woran arbeitest du gerade?
Momentan arbeite ich angestrengt an einer Sache: eine möglichst entspannte Weihnachtszeit zu haben. Ich bin selbstständig und daher versuche ich all meine laufenden Projekte so gut es geht noch dieses Jahr abzuschließen, um nicht unter dem Weihnachtsbaum mit Rechner zu sitzen.
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Published on 19/12/2018 13:07.
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Mitgehört: Musik aus dem Filter-Schwarm
Heute: Lars Brinkmann, Journalist
Das Filter – Interview vom 03.12.2018
In seiner Kolumne „Mitgehört“ befragt Martin Raabenstein ganz unterschiedliche Menschen, was sie musikalisch umtreibt. Von prägenden Momenten bis zu aktuellen Highlights: Die Jukebox des Filter-Schwarms wird mit jeder Folge bunter. Heute: der Journalist und Autor Lars Brinkmann.
Magst du dich kurz vorstellen?
Geboren im Süden, nordisch by nature. Dank Andy Warhol und Charles Wilp drei Jahrzehnte als Edel-Nutte in der Werbung tätig. Seitdem, zum Ausgleich des Karma-Kontos, umfangreiche Selbstausbeutung: in den guten, alten Zeiten für Klugscheißermagazin SPEX über randständige Kultur berichtet, (Heavy) Metal entstigmatisiert, Noise vergöttert, daneben, davor und danach Fanzines beschenkt, das Feuilleton unterwandert, Musik gemacht etc. pp. Hier und da auch mal ein paar Platten aufgelegt, zuletzt im Haus der Kulturen der Welt bei der Veranstaltung „Böse Musik“. Vor ein paar Jahren den Worten Taten folgen lassen und zusammen mit einer Heerschar von gleichgesinnten Selbstausbeutern das Periodikum GRIMM geboren. Immer noch Linksaußen. Immer noch Hedonist. Immer noch Lost in Music.
Woran arbeitest du gerade?
Ich/wir arbeiten an einem Reader mit verdienten Kolleginnen und Kollegen – man nannte sie Musikjournalisten, als es Musik-Journalismus noch gab. Thema: geniale Arschlöcher. Und dann wartet da natürlich noch immer eine weitere, evtl. finale Ausgabe von GRIMM. Was die „Jobs” – sie nannten es Arbeit – betrifft, schreibe ich regelmäßig für das Monatsmagazin Konkret, zuletzt über Wolfgang Voigt/GAS. Details »
Published on 19/12/2018 13:01.
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Mitgehört: Musik aus dem Filter-Schwarm
Heute: Raban Ruddigkeit, Designer
Das Filter – Interview vom 19.11.2018
In seiner Kolumne „Mitgehört“ befragt Martin Raabenstein ganz unterschiedliche Menschen, was sie musikalisch umtreibt. Von prägenden Momenten bis zu aktuellen Highlights: Die Jukebox des Filter-Schwarms wird mit jeder Folge bunter. Heute: der Designer und Autor Raban Ruddigkeit.
Magst du dich kurz vorstellen?
Ich wurde vor 50 Jahren als Sohn einer Schriftstellerin und eines Malers in Leipzig geboren. Seitdem pendele ich zwischen diesen beiden Ausdrucksformen hin und her. Als Gestalter für Kunden, Verlage und als Autor eigener Produkte kann ich das manchmal ganz gut verbinden und habe so hoffentlich über die Jahre eine eigene grafische Sprache gefunden.
Woran arbeitest du gerade?
Ich arbeite gerade daran, etwas weniger zu arbeiten.
Was hörst du zur Zeit gerne?
Wie immer bunt durcheinander. Und wie immer gilt: Der Song zählt, nicht der Sound. Gerade habe ich mich ein wenig in die dänische MØ verguckt, die wie so viele nach dem Thron des Pop greift, ohne ihn dann wirklich zu wollen. Aber vor allem erwische ich mich dabei, wie ich doch immer wieder auf David Bowies „Blackstar“ zurückkomme und fast noch mehr auf die Musical-Variante dazu. Die heißt „Lazarus“ und wurde am Broadway noch mit des Meisters Hilfe orchestriert und einstudiert.
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Published on 19/12/2018 12:55.
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Rewind: Klassiker, neu gehört
Fennesz – Black Sea (2008)
Das Filter– Gespräch: Thaddeus Herrmann, Martin Raabenstein vom 07.12.2018
Auch der „Endless Summer“ ist mal vorbei. Mit dieser Platte hatte der Wiener Christian Fennesz sich selbst und der Gitarrenmusik ein Denkmal gesetzt, die Frippertronics erst angezählt und dann hinter der Granularsynthese zu Staub zerfallen lassen. Sieben Jahre, zwei Solo-Alben und zahlreiche Kollaborationen (zum Beispiel mit David Sylvian und Ryuichi Sakamoto) später entfaltet sich auf „Black Sea“ eine Art ästhetisches Best-of eines Musikers, der zwischen Drones, Ambient, Field Recordings und sinfonischen Anleihen die Tiden des verbrieften musikalischen Status Quo am Schlick packt. Martin Raabenstein und Thaddeus Herrmann kippen auf ihrer Reise nach Drone-City zunächst rein symbolisch alte Plug-Ins in den Ausguss der Geschichte, um schließlich im Fahrstuhl des Schlussakkords ein paar Vorstadttränen zu verdrücken.
Martin Raabenstein: Die Kombination Gitarre/Computer ist ureigenstes Fennesz-Feld. Ist der Komponist mit seinem vierten Studioalbum „Black Sea“ auf der Suche nach dem sinfonischen Drone?
Thaddeus Herrmann: Zunächst ist die Musik von Fennesz ja der einzige Heavy Metal, den ich mag. Ich hatte das Album wirklich lange Zeit nicht mehr gehört und zog dann in der Vorbereitung den direkten Vergleich mit dem Vorgänger – „Venice“ – von 2004. In diesen Jahren ist tatsächlich viel passiert im granulierten Nirgendwo zwischen MAX/MSP und Fender. Die Tracks wirken auf mich … durchdachter? Zumindest unaufgeregter und mit weniger Spitzen. Bis auf das Intro natürlich, aber danach entsteht eine fein wogende See der Stille. Die ganz viel von dem beinhaltet, was in den Jahren zuvor durch die Musikgeschichte gerauscht war und Eindruck hinterlassen hatte. „Black Sea“ wirkt wie ein Schlussakkord für diese Phase. The End.
Martin: Also mal wieder das Ende einer Ära. Ich habe für dieses Album keine romantischen Erinnerungen. Fennesz war damals nicht auf meinem Teller, obwohl „Cendre“ von Fennesz & Sakamoto schon ein Jahr früher erschien und bei mir am äußeren Rand der Aufmerksamkeit auftauchte. Zehn Jahre später finde ich nur noch eine leise Ahnung vor, warum mich das damals bewegt haben könnte, aber immerhin – das Werk taugt noch wunderbar als musikalische Untermalung für nebenbei. Eigenartigerweise empfand ich diese steigende Distanz gerade vor kurzem schon einmal – zu dieser Art Musik, der Zeit und allem, was sich daraus entwickelte. Mein neuerlicher Versuch, Fluid Radio zu hören, war wohl wirklich der letzte. Vieles davon hat sich für mich zu einer Art intelligenter Fahrstuhlmusik entwickelt. Gar nicht schlecht im eigentlichen Sinne, ein nicht unangenehmes Grundrauschen.
Thaddeus: Na, in dem Fahrstuhl würde ich ja gerne stundenlang cruisen. Mein Verhältnis zu Fennesz und seiner Musik ist aber auch ein bisschen atypisch. „Endless Summer“ hat mich nie interessiert. Die ganze Wiener Blase hat mich nie interessiert. Das war für mich zum Großteil immer genau die PowerBook-Musik, die die Welt nicht gebraucht hat. Aber dankenswerter Weise legte sich im Kopf von Fennesz irgendwann ein Schalter um, der mich dann ins Boot holte. Auch die Zusammenarbeit mit Sakamoto halte ich für mehr oder weniger belanglos. Wir hören hier meinem Empfinden nach die Essenz eines über Jahre entwickelten und verfeinerten Ansatzes, der nicht zuletzt dank der stetig besser werdenden Technologie zu etwas Großem gewachsen ist. Auf der Welle kann man schon mal ein paar Jahre reiten. Oder eben im Fahrstuhl fahren. Auf und ab, auf und ab, auf und ab: Die Metapher passt ja sowohl zur See als auch zum Hochhaus.
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Published on 07/12/2018 15:40.
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Rewind: Klassiker, neu gehört
Max Richter – 24 Postcards In Full Colour (2008)
Das Filter – Gespräch: Thaddeus Herrmann, Martin Raabenstein – 05.11.2018
Es gab eine Zeit, in der war Max Richter noch indie. Damals schrubbte der britische Komponist nicht Soundtrack nach Soundtrack, sondern war vielmehr dabei, seine musikalischen Ideen Schritt für Schritt und sehr sachte zu entwickeln – auf „130701“, einem kleinen Sublabel des Techno-Imperiums „FatCat“. Und beschäftigte sich mit den Dingen, die damals eben Thema waren – Klingeltöne zum Beispiel. Sein Album „24 Postcards In Full Colour“ war die Antwort auf Abzocker-Abos von Jamba und Co. 24 kurze Snapshots, mit denen bimmelnde Telefonen ihre plärrende Würde wiedererlangen sollten. Zehn Jahre später vereinbaren Raabenstein und Herrmann erst telefonisch einen Termin, klären, wer von den beiden nun Mozart und wer Bach ist und lassen es klingeln. Also laufen. Jóhann Jóhannsson hört auch irgendwie zu. Aber das ist bei Max Richter ja nun wirklich keine Überraschung.
Martin Raabenstein: Du sagst, du kommst in das Album nicht so richtig rein. Warum?
Thaddeus Herrmann: Das ist der dann doch recht speziellen Form geschuldet. Es ist ja kein Album im herkömmlichen Sinn. Dass wir beide uns nochmal über Klingeltöne unterhalten würden … toll!
Martin: Dieses Nicht-Album ist aber ein eindeutiger Richter. Mit allem was den Max sonst so ausmacht. Möglicherweise ist genau hier, in der Verknappung, des Komponisten wahre Seele zu spüren?
Thaddeus: Ein absolut eindeutiger Richter, gar keine Frage. Und natürlich schon ein Album, nur eines, das für mich nicht als solches funktioniert. Und von Richter – glaube ich – auch nicht so gedacht ist. Denn es ist ja tatsächlich seine Auseinandersetzung mit dem Thema Klingelton – 2008 war das ein großes Thema auf den Telefonen da draußen. 24 kurze – sehr kurze Stücke, Ideen, Skizzen. Hier spielt die Reihenfolge keine Rolle, am besten hört man das im Shuffle-Modus oder sucht sich seine Lieblinge raus, lädt sie sich auf das Telefon und hofft, ganz viele SMS oder Anrufe zu bekommen. Für einen Komponisten schon ein interessanter Schritt. Ich mag das. Weil: Wenn man es einfach durchhört, wird man ja immer wieder rausgeworfen. Um in der Metapher zu bleiben: Es ist ein einziger Verbindungsabbruch. Es gibt so gut wie keine Blenden, Stücke fangen an, hören drastisch und radikal auf, Pausen zwischen den Tracks scheinen willkürlich. Man hüpft von Pfütze zu Pfütze.
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Published on 06/11/2018 14:43.
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Rewind: Klassiker, neu gehört
Jóhann Jóhannsson – Fordlandia (2008)
Das Filter – Gespräch: Thaddeus Herrmann, Martin Raabenstein – 11.10.2018
Am 9. Februar 2018 starb Jóhann Jóhannsson. Zu diesem Zeitpunkt war aus dem isländischen Komponisten nach einer knapp 20-jährigen Karriere ein Weltstar geworden – überhäuft mit Auszeichnungen, vor allem für seine Soundtracks immer größerer Hollywood-Produktionen. Wer hätte 2002 schon damit gerechnet, dass aus dem Künstler, der damals auf dem wundervollen, aber doch auch sehr kleinen Londoner Touch-Label sein erstes Album „Englabörn“ veröffentlichte, mal der werden würde, der die Cinemaxx-Leinwände orchestriert? Seine Fans haben es ihm vielleicht gewünscht, insgeheim aber auch gehofft, dass es nie dazu kommen würde. Denn in Jóhannssons Musik lebte hinter der großen Geste auch immer die kleine ausgestreckte Hand, die man mit niemandem teilen wollte – schon gar nicht den Filmstudios. Jóhannssons Begabung, klassische Musik alles andere als klassisch klingen zu lassen, resultierte in den folgenden Jahren in gleich mehreren Alben, die heute – ja – Klassiker sind. Klassiker eines Genres oder einer Idee, die bis heute keinen Namen hat und auch nicht verdient hätte: Wer seiner Zeit voraus ist, muss sich nicht mit den Nachzüglern gemein machen. „Fordlandia“ ist eines dieser Alben. Martin Raabenstein und Thaddeus Herrmann hören mucksmäuschenstill zu.
Martin Raabenstein: Kann man „Odi et Amo“ von Jóhannssons 2002er-Album „Englabörn“ eigentlich noch toppen? Wenn auf dem ersten Soloalbum schon der erste Track die Latte so himmelhoch hängt, wie kommt man da in Folge immer wieder drüber?
Thaddeus Herrmann: Du warst später ja ganz optimistisch. Und ich überhöre diese Frage lieber – mir fehlt die passende Antwort. Ich schätze „Englabörn“ sehr, purzele aber ohnehin immer ganz tief in Jóhanns Platten hinein, wenn ich sie wieder von Neuem höre. So ging es mir auch hier. Der Opener und der Closer – die beiden Versionen des namensgebenden Themas – bilden eine derart starke Klammer, dass es mir fast schon egal ist, was dazwischen passiert. Und mich auch ausblenden lässt, dass Jóhannsson Henry Ford zum Sujet der Platte macht.
Martin: Lustig, dass du dich an diese Review erinnerst, lang, lang ist’s her. Ein paar Alben, also Jahre später, bin ich da dezent kritischer. Gerade die von dir erwähnten Tracks sind mein schmerzender Zahn.
Thaddeus: Hab ich es doch gewusst!
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Published on 11/10/2018 11:01.
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Rewind: Klassiker, neu gehört
4hero – Two Pages (1998)
Das Filter – Gespräch: Thaddeus Herrmann, Martin Raabenstein – 20.09.2018
Drum and Bass hat ja bekanntlich viele Seiten. Hardcore, Jungle, Two-Step, Half-Step, Liquid Funk, Abstract, Amen-Gewitter – am Ende sind es immer die Breakbeats, die als kleinster gemeinsamer Nenner übrig bleiben. Und mit denen kannten sich 4hero immer aus. Mark „Marc Mac“ Clair und Denis „Dego“ McFarlane haben die Szene mit aus der Taufe gehoben, entscheidend geprägt und ihren Erfolg geebnet – mit ihren eigenen Produktionen und als Teil des Reinforced-Kollektivs, einem der wichtigsten Label des Genres überhaupt. Bei ihnen haben die späteren Stars das kleine Einmaleins gelernt. 1998 wagten die beiden Musiker schließlich selbst den nächsten Schritt. „Two Pages“ – ihr drittes Album – erschien auf Talkin‘ Loud, der Major-Label-Spielwiese von Gilles Peterson, und sollte die ganz große Geste werden. 4heros Ziehsohn Goldie hatte mit „Timeless“ drei Jahre zuvor ein epochales Konzeptalbum hingelegt, „Two Pages“ ist ähnlich umfangreich. Und doch ganz anders. In zwei autarken Teilen sollte hier der ganze Kosmos der Londoner Produzenten ein Denkmal bekommen. Sanft, durchdacht gejazzt und mit vielen Gästen – zum Beispiel Ursula Rucker, Ike Obiamiwe, Carol Crosby am Mikrofon – im ersten, und gewohnt radikal „trackig“ im zweiten. Da fragt man sich zunächst: Geht das überhaupt und vor allem auch zusammen? Raabenstein und Herrmann lassen 20 Jahre später die so unterschiedlichen Beats auf sich runterprasseln, zünden eine Kerze des Gedenkens an, merken schnell, dass des einen Drum and Bass nicht des anderen Drum and Bass ist – und ziehen gerade noch rechtzeitig vor dem Best-Of von Galliano den Stecker des Vergessens. Die Pionierarbeit von 4hero bleibt derweil unangetastet.
Martin Raabenstein: Eindeutige Premiere. Mir fällt kein Einstieg ein, keine Anekdote, noch nicht mal ein boshaftes Dissen.
Thaddeus Herrmann: Und doch hat er wieder das erste Wort. Ha! Dann lege ich zunächst mal die Fakten auf den Tisch. Es gibt nicht gerade viele Dons im Drum and Bass, Marc und Dego – 4hero – sind die größten, wichtigsten und Väter aller anderen. Sie haben geschuftet für den Breakbeat, vom ersten Tag an. Reinforced, ihr Label, ist ein echtes Powerhouse. Was sie mit ihrer Crew A&R-mäßig dort auf die Beine gestellt haben, ist auch heute noch schlicht unfassbar. Das gilt auch für ihre eigene Musik. Ob nun 4hero, Tek 9 oder Jacob’s Optical Stairway – alles großartig. Die beiden haben an den Drum and Bass geglaubt und sich nicht vom Weg abbringen lassen. Was vielleicht ihr Untergang war. Ihr Sound wurde nur langsam schneller, nur zum Teil darker, und weil sie generell nur wenig Lust auf Öffentlichkeit hatten, hat ihr Ziehkind Goldie dann halt die Lorbeeren eingesteckt. Also: Kniefall vor den beiden aus Dollis Hill. Allerdings passt „Two Pages“ aus meiner Perspektive in diese Lobhudelei nur bedingt hinein. Man kann – und muss es wahrscheinlich auch – auf mindestens zwei Weisen lesen und hören. Als Rückbesinnung auf die Ursprünge und Einflüsse oder aber als einfache Verweigerungshaltung. Nach dem Motto: Jetzt haben wir unseren Major-Vertrag, jetzt machen wir erst recht das, was wir wollen und genau das, was niemand erwartet.
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Published on 20/09/2018 12:06.
Filed under: Allgemein, Archiv 2018, Reviews Tags: 1998, 4hero, das filter, drum and bass, jubiläum, martin eugen raabenstein, music, nu jazz, Review, Rewind: Klassiker neu gehört, thaddeus herrmann, two pages

Rewind: Klassiker, neu gehört
Boards Of Canada – Music Has The Right To Children (1998)
Das Filter – Gespräch: Thaddeus Herrmann, Martin Raabenstein – 05.09.2018
Die definitiven Superstars der Electronica? Boards Of Canada! Das Mystery-Bruderpaar aus Schottland – Michael Sandison and Marcus Eoin – daddelte in den 1990er-Jahren erst ein paar Jahre vor sich hin, startete dann auf SKAM durch und wurde auf Warp zu einer musikalischen Ikone. „Music Has The Right To Children“ erschien ebenda, 1998. Das erste „Album“ war kaum mehr als eine Compilation, die dennoch wichtiger nicht hätte sein können. So wurde der introvertierte Sound-Entwurf der Boards in die große weite Welt katapultiert und rumort seitdem heftigst, auch wenn neue Veröffentlichungen rar und immer seltener werden. Boards Of Canada stehen heute für einen vollständig eigenen Sound-Entwurf, der zwischen Verschwörungstheorien und ganz persönlicher Nostalgie oszilliert – eine Steilvorlage für alle Beteiligten. Martin Raabenstein und Thaddeus Herrmann hören sich durch die Tracks und Samples, die erst mit einer Prise virtuellem LSD richtig gut werden, holen den Radioempfänger aus dem Keller, um die Number Stations zu checken und fragen sich 20 Jahre später, welche Relevanz solche Entwürfe für die Musik von heute noch haben. Ein Mashup bringt Licht ins Dunkel der popkulturellen Grobkörnigkeit.
Martin Raabenstein: Mit „Music Has The Right To Children“ lauschen wir dem exakten Gegenentwurf zu Massive Attacks „Mezzanine“ von neulich, sozusagen dem Laurel zum Hardy. Diesem sexy aber gleichwohl im dunkelsten Dunkel fischenden Projekt wird hier Ironie, Wortspiel, Zahlenmythologie und nahezu kindliche Naivität entgegengesetzt. Das ist Psychedelic in Mikrodosierung. Bemerkenswerter Weise diskutiert man heute, 20 Jahre später, über LSD für die Massen, in wohl dosierter Globuli-Darreichung.
Thaddeus Herrmann: Gegenentwurf? Eher nicht. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass es da Berührungspunkte gab und Telefonnummern gespeichert wurden. Wir haben es hier ja auch gar nicht mit einem Album zu tun, sondern vielmehr mit einer Compilation. Aufgepeppt und rund gemacht, mit neuen Stücken ergänzt, aber es ist letztlich doch nur eine Compilation. Die beiden schottischen Brüder ordnen hier ihr Frühwerk. Das ist gut, weil es zuvor ziemlich zerfasert vorlag und viele der Platten ohnehin nicht verfügbar waren. Die „High Scores“-EP auf SKAM war zuvor erschienen. Das Label aus Manchester durchlebte damals den Hype der Hypes und davon profitierten auch die Boards Of Canada. Und dann kam Warp um die Ecke. Ich möchte gerne etwas aus dem Pressezettel von damals zitieren: „Eine Sammlung schon bekannter und bisher unveröffentlichter Tracks. Michael und Marcus liefern einen kleinen Ausblick auf Ende 1998, wenn ein neues Studioalbum von Boards Of Canada das Licht der Öffentlichkeit erblicken wird. Boards Of Canada bewegen sich in einer Welt von Kraftwerkscher Schönheit, kühler Ästhetik und des perfekt gesetzen Beats.“
Dazu fällt dir doch bestimmt was ein? Details »
Published on 05/09/2018 15:03.
Filed under: Allgemein, Archiv 2018, Reviews Tags: 1998, boards of canada, das filter, jubiläum, martin eugen raabenstein, music, music has the right to children, Review, Rewind: Klassiker neu gehört, thaddeus herrmann

Rewind: Klassiker, neu gehört
Massive Attack – Mezzanine (1998)
Das Filter – Gespräch: Thaddeus Herrmann, Martin Raabenstein – 29.08.2018
Massive Attack gelten als TripHop-Ikonen. Die Musiker aus Bristol legten gut vor: Ein kuddelmuddeliges Kollektiv von DJs und Beatmakern produzierte mit „Blue Lines“ und „Protection“ zwei Alben, die sich in das gemeinschaftliche Gedächtnis der Popkultur eingebrannt haben – nicht nur wegen der zahlreichen Features von der Reggae-Legende Horace Andy oder Tracey Thorn, einer der besten Sängerinnen der Welt. 1998 – vor 20 Jahren – wendete sich das Blatt: Die LP „Mezzanine“ steht für einen radikalen Wandel im Sound des Projekts. Düster-schimmernd – und ohne Tricky – setzt die Band die kommerziell erfolgreichsten Akzente ihrer Karriere. Aber wie passt dieser Entwurf in die Geschichte von Massive Attack? Ein Aufbruch zu neuen Ufern oder doch nur musikalische Ratlosigkeit, verpackt in rockige Downbeats? Ist die „Unfinished Symphony“ von 1991 endgültig ausgeträumt? Martin Raabenstein und Thaddeus Herrmann hören das Album 20 Jahre später durch, schwärmen und schwofen zu den großen Singles der Platte und stellen die Frage aller Fragen: Ist Nostalgie tödlich?
Martin Raabenstein: „Mezzanine“, schöne Erinnerungen an das auslaufende, letzte Jahrtausend. Dark, kräftig und ohne das Tricky-GnaGnaGna. Herrliches Highlight das, Herr Herrmann, oder nicht?
Thaddeus Herrmann: Ja, so halb. Bei mir ist es so: Die beiden ersten Alben des Projekts – „Blue Lines“ und „Protection“ – finde ich von A-Z fantastisch. Das sind super Songs, die dazu noch super sequenziert sind. Die Platten funktionieren wie ein DJ-Mix. Hier, auf „Mezzanine“ ist alles etwas anders. Zuerst hat sich das Projekt im Sound gewandelt. Dazu sprechen wir später bestimmt noch. Vor allem aber wird die starre Darreichungsform aufgebrochen. Und diese Tatsache ist dafür verantwortlich, dass ich keine ganz eindeutige Haltung zu diesem Album habe. Das geht alles wunderbar los – mit „Angel“ und dem wunderbaren Horace Andy, der ja auch schon auf den ersten beiden Alben dabei war, und natürlich „Teardrop“ mit der unfassbaren Elizabeth Fraser. Aber es zerfasert danach ein wenig. Meinem Empfinden nach gelingt es nicht, den Spannungsbogen zu halten. Und auch wenn nur elf Tracks drauf sind – vollkommen im Rahmen –, kam es mir beim Durchhören einfach unglaublich lang vor. Also: Das nicht auf den Punkt kommen wollende Album hört auch einfach nicht auf. Details »
Published on 04/09/2018 12:43.
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Rewind: Klassiker, neu gehört
Front 242 – Front By Front (1988)
Das Filter – Gespräch: Thaddeus Herrmann, Martin Raabenstein – 30.07.2018
Wenn es um den stampfenden Maschinen-Beat der Prä-Techno-Ära geht, sind Front 242 ausgemachte Helden. Daniel Bressanutti und Dirk Bergen gründeten die Band 1981 in Belgien – als Patrick Codenys, Sänger Jean-Luc De Meyer und der MC Richard Jonckheere aka Richard 23 dazu stießen, rollte die EBM-Welle unaufhörlich auf Erfolgskurs. Diese „Electronic Body Music“ florierte nicht nur, aber vor allem in Belgien – auf einigen wenigen Labels wurden in den 1980er-Jahren die stilprägenden Platten ebenso stilprägender Bands veröffentlicht. 1988 – als „Front By Front“ erschien, war EBM schon global gelebte musikalische Ausdrucksform. Ein Sound, der aber auch Gefahr lief, vom Techno absorbiert zu werden. Dem Sound aus Detroit hatten Front 242, Skinny Puppy, à;GRUMH… und Nitzer Ebb nur wenig bzw. das Falsche entgegen zu setzen. Die Szenen begannen zu verschmelzen und sich abzulösen. 1988 hingegen gingen Front 242 noch steil: Mit ihrem vierten Album legten die Belgier einen Sound-Entwurf vor, der in der Vergangenheit, der Gegenwart und der versprochenen Zukunft verankert war. Straffe Beats, erstaunliches Songwriting und immer noch ein Händchen für Sampling retteten dieses Album problemlos über die Ziellinie des guten Geschmacks all derer, die die Revolution des 4/4-Geschäfts noch nicht wahrhaben wollten. Und heute? 30 Jahre später ziehen Martin Raabenstein und Thaddeus Herrmann ihre Tarnwesten über, werfen ihre Netze aus und suchen nach dem „Headhunter“ des guten Geschmacks.
Martin Raabenstein: Sieht man von den deutschen Projekten D.A.F, Einstürzende Neubauten und Die Krupps Anfang der Achtziger mal ab, hat Kontinentaleuropa Mitte dieses Jahrzehntes nur noch wenig auf der elektronischen Pfanne. Front 242 waren die Letzten, die noch erfolgreich und innovativ den von Ralf Hütter geprägten Terminus Electronic Body Music hoch über ihren Köpfen schwenkten. Mit dem Track „Headhunter“ von „Front By Front“ turnten die Belgier sogar in den US Billboard Charts ziemlich weit oben. Wie erklärt sich dieses Alleinstellungsphänomen?
Thaddeus Herrmann: Dem stimme ich schon mal überhaupt nicht zu. Die „elektronische Pfanne“ brutzelte – um mal im Bild zu bleiben – heftigst. Die letzten waren sie also sicher nicht. Aber das gesamte Genre der EBM war zu diesem Zeitpunkt, also 1988, dabei sich zu wandeln. Front 242 waren zu diesem Zeitpunkt ja schon lange aktiv und schwammen im Strom der belgischen Bands und Projekte mit, waren dabei aber wahrscheinlich die Erfolgreichsten. Ich finde das Album interessant, weil es diesen Umbruch in ihrem Sound so explizit herausstellt. Tracks wie „Headhunter“ oder „Circling Overland“ sind ganz klassisch 242 – „Headhunter“ dazu noch der vielleicht größte Hit der Gruppe, was nicht zuletzt auch auf das Eier-Video von Anton Corbijn zurückzuführen ist. Gleichzeitig hört man hier aber zum ersten Mal wirklich den Techno heraus. Da spielt der New-Beat-Einfluss mit rein. Hier vermischten sich Szenen. Es wurde also technoider. Und das – ganz ehrlich – fand ich immer schwierig. Weil es zumindest auf Platte für mich nicht so recht funktionierte. Ganz anders als live. Warum ging „Headhunter“ nun so durch die Decke? Erstens: guter Song. Zweitens: Die Band hat sich das ja auch erpinselt – mit Tracks wie „Quite Unusual“ oder „Masterhit“ im Jahr davor und endloses Touren. Details »
Published on 30/07/2018 13:14.
Filed under: Allgemein, Archiv 2018, Reviews Tags: 1988, berlin, das filter, ebm, front 242, front by front, jubiläum, martin eugen raabenstein, music, Review, thaddeus herrmann

Rewind: Klassiker, neu gehört
Public Enemy – It Takes A Nation Of Millions To Hold Us Back (1988)t
Das Filter – Gespräch: Thaddeus Herrmann, Martin Raabenstein – 16.07.2018
Chuck D, Flavor Flav, Professor Griff, Khari Wynn und DJ Lord zählten mit ihrem zweiten Album die US-amerikanische Gesellschaft und die HipHop-Welt gleichermaßen an. Bessere Raps, bessere Produktion, bessere Samples: Die Angst vor dem schwarzen Planeten zog bereits am Horizont herauf. Die dringliche Melange, die gemeinsam mit Rick Rubin für dessen Label Def Jam entstand, hallte lange nach und wurde zur Blaupause einer musikalischen Protestkultur, die einen noch heute die Faust recken lässt. Die Themen und deren musikalische Umsetzung von Public Enemy sind heute aktuelle denn je. Martin Raabenstein und Thaddeus Herrmann überprüfen das Album 30 Jahre später auf die vermaledeite Authentizität, jetten zwischen der Ost- und Westküste hin und her und stellen schließlich die Fragen aller Fragen: Was denkt wohl Kendrick Lamar über „Bring The Noise“?
Martin Raabenstein: Besser kann es ja gar nicht passen. Nach Talk Talk erneut derselbe Begriff – Authentizität. Andere Lesart, komplett gegenteilige Baustelle, Blackness als politischer „It Takes a Nation of Millions to Hold Us Back“ ist nicht die erste klar gerichtete Botschaft – auch Gil Scott-Heron, Grandmaster Flash and the Furious Five hatten alle schon den Zeigefinger oben. Mit diesem Album aber kommt die dicke Welle, das Statement wird laut und rauher. Schon allein der Bandname ist Programm: „The Black man is definitely the public enemy“. Das ist keine Beastie-Boys-Partymucke, hier kochen die Kessel.
Thaddeus Herrmann: Wir wollten Authentizität doch als Unwort im Schrank lassen! Ich kann das auch schlecht bis gar nicht einschätzen, weil mir die Historie des HipHop einfach abgeht – ich kenne mich nicht aus. Das Album ist jedoch mit seiner In-Your-Face-Attitüde ein großer Wurf. Was ziemlich bemerkenswert ist, weil der Vorgänger – nur ein Jahr zuvor erschienen – längst nicht so weit ist. Da klingt Chuck D eher wie ein nölender Beastie Boy, der noch nicht so recht weiß, wie das alles werden wird. Auch die Produktion ist vergleichsweise lahm. Rick Rubin scheint sich hier einen neuen Kompressor zugelegt zu haben. Gute Entscheidung. Details »
Published on 16/07/2018 13:09.
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Rewind: Klassiker, neu gehört
Talk Talk – Spirit Of Eden (1988)
Das Filter – Gespräch: Thaddeus Herrmann, Martin Raabenstein – 27.06.2018
Auf diesem Album warfen Mark Hollis, Paul Webb, Lee Harris und Produzent Tim Friese-Greene alle Zweifel über Bord, kehrten das Innerste nach Außen und setzten dem „Prinzip Talk Talk“ eine stille und berührende Krone auf. Dass sich die Band, die mit Songs wie „Such A Shame“, „Living In Another World“ oder „Life’s What You Make It“ der Popwelt Momente der Bedeutsamkeit geschenkt hatte, auf dem Weg in die musikalische Meditation befand, war abzusehen. Doch die sechs Stücke auf „Spirit Of Eden“ hallen bis heute, 29 Jahre und zehn Monate nach der Veröffentlichung, auf beeindruckende Art und Weise nach – kraftvoll und einzigartig. Martin Raabenstein und Thaddeus Herrmann sind sich einig wie selten, beamen sich in das Aufnahmestudio, legen sanft das Kinn auf Mark Hollis’ Schulter und summen leise mit: „Take My Freedom For Giving Me A Sacred Love.“
Martin Raabenstein: Von „It’s My Life“ zu „Spirit Of Eden“ ist es ein langer Weg. Jedoch: Gerade mal vier Jahre liegen dazwischen. Was für eine Entwicklung.
Thaddeus Herrmann: Wir sind ja hier quasi live dabei, wie eine Band zerfällt. „Spirit Of Eden“ – das ist ja vor allem nur noch das Zusammenspiel von Mark Hollis und Tim Friese-Greene, der später zu Talk Talk dazugestoßen war. Paul Webb und Lee Harris spielen noch mit, werden aber wie die zahlreichen anderen Gäste vom Kreativ-Duo dirigiert. Über die Gründe dieses doch schnellen Wandels im Sound kann ich nur spekulieren. Das Album ist das Ergebnis endloser Jams, die dann zu Stücken verarbeitet wurden. Keine Konzerte, nur ein Video, das Hollis scheiße fand. Künstlerische Evolution vs. Verweigerungshaltung dem Pop-Business? Was meinst du? Was wiegt schwerer? Details »
Published on 29/06/2018 09:47.
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Rewind: Klassiker, neu gehört
Chic – C’est Chic (1978)
Das Filter – Gespräch: Thaddeus Herrmann, Martin Raabenstein – 14.05.2018
Chic, das Projekt von Nile Rodgers und Bernard Edwards, steht musikhistorisch für mehr als Disko und Dancefloor. Aber auf der Tanzfläche scheiden sich die Raabenstein’schen und Herrmann’schen Geister immer wieder besonders fulminant. Unter der so wunderbar gleichmäßig gepunkteten Diskokugel des Vergessens hören die beiden „das Album mit ‚Le Freak’“. Ein Gassenhauer, der der LP „C’est Chic“ nicht wirklich gerecht wird. Es kommt, wie es kommen muss: Erst kriegen die Pet Shop Boys aufs Maul, und dann verlieren sich die Spuren im Swimmingpool vor dem Berghain.
Martin Raabenstein: „C’est Chic“ war mehr als nur Disko, eher eine verruchte Änderung der Zeitform, sexualisiertes Futur II: „Wir werden viel Spaß gehabt haben“, das definitive Versprechen also. „I Want Your Love“ drückte keinen Wunsch aus, sondern eine schon im Hier und Jetzt vollzogene Zukunft. Die Babyboomer wackelten sich 70er-like in ihre unkeusche Visionen. Disko hatte 1978 zwar schon ein paar Jährchen auf der Rille, dennoch, heißer Scheiß hier, ein wirkmachtsicherer Feuchtigkeitsspender zur Dauerbespielung.
Thaddeus Herrmann: Dabei klingt es ja aus der heutigen Sicht – also der Zukunft von damals – gar nicht sonderlich aufregend oder anders. Dieses Album beschreibt für mich zunächst ein fast perfektes Cocooning. Es geht also um die Erschaffung eines Raumes, vielleicht sogar eines Paralleluniversums, in dem alles mehr als perfekt wattiert und ausgeleuchtet ist. Wer hier auf der Gästeliste steht, darf sich glücklich schätzen. Muss aber auch den Regeln folgen, sich darauf einlassen, was hier vorgegeben wird. Genau das gelingt aus der heutigen Zukunft natürlich kinderleicht, weil viele der Dinge, die auf dem Album entschieden wurden, mittlerweile Kanon sind. Schon wieder so eine Referenzmaschine. Was interessant ist, weil abseits der Tracks, die heute Gassenhauer sind, es eher die subtilen Nuancen sind, die adaptiert wurden. Ich meine: Wo wären die Pet Shop Boys jemals angekommen ohne diese Streicher-Sounds?!
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Published on 15/05/2018 11:01.
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Rewind: Klassiker, neu gehört
Harold Budd – The Pavilion Of Dreams (1978)
Das Filter – Gespräch: Thaddeus Herrmann, Martin Raabenstein – 02.03.2018
Harold Budd gilt als Weggefährte von Brian Eno und prägender Mitstreiter in Sachen Ambient. Dabei ist er überhaupt kein Fan dieses Begriffs, schon gar nicht, wenn es um seine eigene Musik geht. Geboren 1936 in Los Angeles, spielte er schon als Jugendlicher Schlagzeug in den Jazz Clubs South Centrals, belegte schließlich einen Kompositionskurs am College, identifizierte sich mit der Haltung von John Cage in Bezug auf die Künste und begann eigene Werke zu komponieren. Das Album „The Pavilion Of Dreams“ markiert seinen Wiedereintritt in die Musik – zuvor hatte er jahrelang pausiert, weil ihm seine eigene Rolle im kompositorischen Prozess nicht mehr ausreichte. Heute kennt man Harold Budd vor allem für seinen ganz eigenen Stil am Piano, den er auf zahlreichen Soloplatten, aber auch mit Brian Eno, den Cocteau Twins oder Robin Guthrie seit den frühen 1980er-Jahren immer weiter verfeinert hat. Mit dem für ihn typischen Soft-Pedal hinter viel Hall hat dieses Album hier aber rein gar nichts zu tun. Auch 40 Jahre nach dem Erscheinen ist es schwer, diese Platte wirklich einzuordnen. Nicht nur, weil viele wichtige Größen aus der Musikwelt hier mitspielen, wenn auch zum Teil nur als Statisten. Brian Eno scheint zu spüren, dass das hier etwas Besonderes ist. Warum sonst hätte er sich als Produzent groß auf das Cover geschrieben? Raabenstein und Herrmann sammeln die Stolpersteine, die das Album und seine Geschichte haben, von der Zeitachse auf und fangen da an, wo man in so einer Situation eben anfängt: bei Ambient und Raumschiff Enterprise.
Martin Raabenstein: „This is only pretty, don’t look for any meaning.“ Wundersames Understatement des Künstlers zu seinem Album oder fein durchdachte, konzeptuelle Grundidee eines ganzen Genres, des Ambient?
Thaddeus Herrmann: Lustigerweise will Budd ja nicht als Ambient-Künstler wahrgenommen werden. Viel Glück dabei, der gute Mann ist mittlerweile über 80, da kann er ja noch ein paar Piano-getupfte Pamphlete verfassen. Dieses Album markierte damals seinen Wiedereintritt in die Musik. Er hatte Komposition studiert, sich in der Minimal Music verloren und irgendwann das Interesse verloren. Dann kommt er mit diesem Album wieder auf die Bildfläche – 1978. Mich erinnert die Musik ja an Raumschiff Enterprise, an diese wenigen Folgen, in denen Kirk, Spock und Co. sich auf Planeten runterbeamen, die einem stilisierten Paradies ähneln, die Menschen oder Lebewesen aber nur Böses im Sinn haben. Wenn man sich dort am sprudelnden Brunnen traf, dann lief so ein Sound. So grell wie schlecht belichtetes Technicolor. Total irre.
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Published on 15/05/2018 10:53.
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Rewind: Klassiker, neu gehört
The Beatles – The White Album (1968)
Das Filter – Gespräch: Thaddeus Herrmann, Martin Raabenstein – 01.02.2018
Was folgt auf eine ausgedehnte Meditationszeit in Indien? Natürlich ein Doppelalbum. Die Beatles hatten in den späten 1960er-Jahren ordentlich zu tun: Aus ihrer Musik war längst ein big business geworden, das man in die eigenen Hände genommen hatte. Es wurde gestritten und experimentiert – ein ewiger Kampf der Egos, bei dem mehr kaputt ging, als sich hinterher noch flicken ließ. Zwei Jahre später hieß es nur noch „Let It Be“. Doch hier versammelt die Band 30 Songs, von denen viele in das popkulturelle Unterbewusstsein eingesickert und eine deutlich längere Halbwertzeit aufweisen als die Schrammel-Schlager aus der Pilzkopf-Zeit. Und dann ist da noch Yoko Ono. Alles nicht ganz einfach – oder etwa doch? Raabenstein und Herrmann lassen ihre die Finger über den Prägedruck des weißen Covers gleiten und hören nach.
Martin Raabenstein: Ich würde gerne mit einem Video einsteigen.
Thaddeus Herrmann: OK, was schauen wir?
Martin: Über die Aufnahmen zum Album „The Beatles“ sind viele Geschichten unterwegs. Vor allem die Rolle Yoko Onos bei der Trennung der Fab Four war damals noch, heute vielleicht nicht mehr so sehr, Anlass zum Aufschrei. Betrachtet man in Ruhe den Auftritt von Lennon und Ono bei Dick Cavett ein Jahr nach dem Ausscheiden Lennons, lassen sich einige interessante Details beobachten. Der Erfinder der nach ihm benannten Brille wirkt locker und entspannt, tatkräftig und voller Ideen. Ob Ono das Fass zum Umkippen brachte oder nicht, ist gar nicht so sehr von Belang, vielmehr stellt sich die Frage, was sie dem Mann, der meinte, er sei bekannter als Jesus, zu bieten hatte. Was veranlasst einen Endzwanziger, lieber mit seiner Frau weiterzuziehen, als mit den Buddys im Studio zu werkeln?
Thaddeus: Fangen wir doch mal einen Schritt vorher an. Bei den Beatles gab es im Studio seit jeher ein Freundinnen-Verbot. Das war Lennon dann mit Yoko egal, beziehungsweise Yoko ist einfach mitgekommen. Was weiß ich. Das führte zu Irritationen, die in dieser Phase der Band natürlich besonders dramatisch waren, weil sich die Jungs ja eh schon nicht mehr sonderlich verstanden und alle eher ihr eigenes Ding machen wollten. Man liest schlimme Dinge über die Entstehung des „White Album“. Man war gemeinsam meditieren, und John und Paul haben Songs geschrieben. Aber dann sind alle wieder solo abgereist und haben dann in drei Monaten dieses Album zusammengestochert. Sogar Produzent George Martin nahm sich währenddessen eine Auszeit und Ringo stieg kurzfristig ganz aus. Dafür klingt das Album dann doch ganz gut gelaunt.
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Published on 15/05/2018 10:30.
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