Rewind: Klassiker, neu gehört – 4hero – Two Pages (1998)

Rewind: Klassiker, neu gehört
4hero – Two Pages (1998)

Das Filter – Gespräch: Thaddeus Herrmann, Martin Raabenstein – 20.09.2018

Drum and Bass hat ja bekanntlich viele Seiten. Hardcore, Jungle, Two-Step, Half-Step, Liquid Funk, Abstract, Amen-Gewitter – am Ende sind es immer die Breakbeats, die als kleinster gemeinsamer Nenner übrig bleiben. Und mit denen kannten sich 4hero immer aus. Mark „Marc Mac“ Clair und Denis „Dego“ McFarlane haben die Szene mit aus der Taufe gehoben, entscheidend geprägt und ihren Erfolg geebnet – mit ihren eigenen Produktionen und als Teil des Reinforced-Kollektivs, einem der wichtigsten Label des Genres überhaupt. Bei ihnen haben die späteren Stars das kleine Einmaleins gelernt. 1998 wagten die beiden Musiker schließlich selbst den nächsten Schritt. „Two Pages“ – ihr drittes Album – erschien auf Talkin‘ Loud, der Major-Label-Spielwiese von Gilles Peterson, und sollte die ganz große Geste werden. 4heros Ziehsohn Goldie hatte mit „Timeless“ drei Jahre zuvor ein epochales Konzeptalbum hingelegt, „Two Pages“ ist ähnlich umfangreich. Und doch ganz anders. In zwei autarken Teilen sollte hier der ganze Kosmos der Londoner Produzenten ein Denkmal bekommen. Sanft, durchdacht gejazzt und mit vielen Gästen – zum Beispiel Ursula Rucker, Ike Obiamiwe, Carol Crosby am Mikrofon – im ersten, und gewohnt radikal „trackig“ im zweiten. Da fragt man sich zunächst: Geht das überhaupt und vor allem auch zusammen? Raabenstein und Herrmann lassen 20 Jahre später die so unterschiedlichen Beats auf sich runterprasseln, zünden eine Kerze des Gedenkens an, merken schnell, dass des einen Drum and Bass nicht des anderen Drum and Bass ist – und ziehen gerade noch rechtzeitig vor dem Best-Of von Galliano den Stecker des Vergessens. Die Pionierarbeit von 4hero bleibt derweil unangetastet.

Martin Raabenstein: Eindeutige Premiere. Mir fällt kein Einstieg ein, keine Anekdote, noch nicht mal ein boshaftes Dissen.

Thaddeus Herrmann: Und doch hat er wieder das erste Wort. Ha! Dann lege ich zunächst mal die Fakten auf den Tisch. Es gibt nicht gerade viele Dons im Drum and Bass, Marc und Dego – 4hero – sind die größten, wichtigsten und Väter aller anderen. Sie haben geschuftet für den Breakbeat, vom ersten Tag an. Reinforced, ihr Label, ist ein echtes Powerhouse. Was sie mit ihrer Crew A&R-mäßig dort auf die Beine gestellt haben, ist auch heute noch schlicht unfassbar. Das gilt auch für ihre eigene Musik. Ob nun 4hero, Tek 9 oder Jacob’s Optical Stairway – alles großartig. Die beiden haben an den Drum and Bass geglaubt und sich nicht vom Weg abbringen lassen. Was vielleicht ihr Untergang war. Ihr Sound wurde nur langsam schneller, nur zum Teil darker, und weil sie generell nur wenig Lust auf Öffentlichkeit hatten, hat ihr Ziehkind Goldie dann halt die Lorbeeren eingesteckt. Also: Kniefall vor den beiden aus Dollis Hill. Allerdings passt „Two Pages“ aus meiner Perspektive in diese Lobhudelei nur bedingt hinein. Man kann – und muss es wahrscheinlich auch – auf mindestens zwei Weisen lesen und hören. Als Rückbesinnung auf die Ursprünge und Einflüsse oder aber als einfache Verweigerungshaltung. Nach dem Motto: Jetzt haben wir unseren Major-Vertrag, jetzt machen wir erst recht das, was wir wollen und genau das, was niemand erwartet.

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Rewind: Klassiker, neu gehört – Boards Of Canada – Music Has The Right To Children (1998)

Rewind: Klassiker, neu gehört
Boards Of Canada – Music Has The Right To Children (1998)

Das Filter – Gespräch: Thaddeus Herrmann, Martin Raabenstein – 05.09.2018

Die definitiven Superstars der Electronica? Boards Of Canada! Das Mystery-Bruderpaar aus Schottland – Michael Sandison and Marcus Eoin – daddelte in den 1990er-Jahren erst ein paar Jahre vor sich hin, startete dann auf SKAM durch und wurde auf Warp zu einer musikalischen Ikone. „Music Has The Right To Children“ erschien ebenda, 1998. Das erste „Album“ war kaum mehr als eine Compilation, die dennoch wichtiger nicht hätte sein können. So wurde der introvertierte Sound-Entwurf der Boards in die große weite Welt katapultiert und rumort seitdem heftigst, auch wenn neue Veröffentlichungen rar und immer seltener werden. Boards Of Canada stehen heute für einen vollständig eigenen Sound-Entwurf, der zwischen Verschwörungstheorien und ganz persönlicher Nostalgie oszilliert – eine Steilvorlage für alle Beteiligten. Martin Raabenstein und Thaddeus Herrmann hören sich durch die Tracks und Samples, die erst mit einer Prise virtuellem LSD richtig gut werden, holen den Radioempfänger aus dem Keller, um die Number Stations zu checken und fragen sich 20 Jahre später, welche Relevanz solche Entwürfe für die Musik von heute noch haben. Ein Mashup bringt Licht ins Dunkel der popkulturellen Grobkörnigkeit.

Martin Raabenstein: Mit „Music Has The Right To Children“ lauschen wir dem exakten Gegenentwurf zu Massive Attacks „Mezzanine“ von neulich, sozusagen dem Laurel zum Hardy. Diesem sexy aber gleichwohl im dunkelsten Dunkel fischenden Projekt wird hier Ironie, Wortspiel, Zahlenmythologie und nahezu kindliche Naivität entgegengesetzt. Das ist Psychedelic in Mikrodosierung. Bemerkenswerter Weise diskutiert man heute, 20 Jahre später, über LSD für die Massen, in wohl dosierter Globuli-Darreichung.

Thaddeus Herrmann: Gegenentwurf? Eher nicht. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass es da Berührungspunkte gab und Telefonnummern gespeichert wurden. Wir haben es hier ja auch gar nicht mit einem Album zu tun, sondern vielmehr mit einer Compilation. Aufgepeppt und rund gemacht, mit neuen Stücken ergänzt, aber es ist letztlich doch nur eine Compilation. Die beiden schottischen Brüder ordnen hier ihr Frühwerk. Das ist gut, weil es zuvor ziemlich zerfasert vorlag und viele der Platten ohnehin nicht verfügbar waren. Die „High Scores“-EP auf SKAM war zuvor erschienen. Das Label aus Manchester durchlebte damals den Hype der Hypes und davon profitierten auch die Boards Of Canada. Und dann kam Warp um die Ecke. Ich möchte gerne etwas aus dem Pressezettel von damals zitieren: „Eine Sammlung schon bekannter und bisher unveröffentlichter Tracks. Michael und Marcus liefern einen kleinen Ausblick auf Ende 1998, wenn ein neues Studioalbum von Boards Of Canada das Licht der Öffentlichkeit erblicken wird. Boards Of Canada bewegen sich in einer Welt von Kraftwerkscher Schönheit, kühler Ästhetik und des perfekt gesetzen Beats.“
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Rewind: Klassiker, neu gehört – Front 242 – Front By Front (1988)

Rewind: Klassiker, neu gehört
Front 242 – Front By Front (1988)

Das Filter – Gespräch: Thaddeus Herrmann, Martin Raabenstein – 30.07.2018

Wenn es um den stampfenden Maschinen-Beat der Prä-Techno-Ära geht, sind Front 242 ausgemachte Helden. Daniel Bressanutti und Dirk Bergen gründeten die Band 1981 in Belgien – als Patrick Codenys, Sänger Jean-Luc De Meyer und der MC Richard Jonckheere aka Richard 23 dazu stießen, rollte die EBM-Welle unaufhörlich auf Erfolgskurs. Diese „Electronic Body Music“ florierte nicht nur, aber vor allem in Belgien – auf einigen wenigen Labels wurden in den 1980er-Jahren die stilprägenden Platten ebenso stilprägender Bands veröffentlicht. 1988 – als „Front By Front“ erschien, war EBM schon global gelebte musikalische Ausdrucksform. Ein Sound, der aber auch Gefahr lief, vom Techno absorbiert zu werden. Dem Sound aus Detroit hatten Front 242, Skinny Puppy, à;GRUMH… und Nitzer Ebb nur wenig bzw. das Falsche entgegen zu setzen. Die Szenen begannen zu verschmelzen und sich abzulösen. 1988 hingegen gingen Front 242 noch steil: Mit ihrem vierten Album legten die Belgier einen Sound-Entwurf vor, der in der Vergangenheit, der Gegenwart und der versprochenen Zukunft verankert war. Straffe Beats, erstaunliches Songwriting und immer noch ein Händchen für Sampling retteten dieses Album problemlos über die Ziellinie des guten Geschmacks all derer, die die Revolution des 4/4-Geschäfts noch nicht wahrhaben wollten. Und heute? 30 Jahre später ziehen Martin Raabenstein und Thaddeus Herrmann ihre Tarnwesten über, werfen ihre Netze aus und suchen nach dem „Headhunter“ des guten Geschmacks.

Martin Raabenstein: Sieht man von den deutschen Projekten D.A.F, Einstürzende Neubauten und Die Krupps Anfang der Achtziger mal ab, hat Kontinentaleuropa Mitte dieses Jahrzehntes nur noch wenig auf der elektronischen Pfanne. Front 242 waren die Letzten, die noch erfolgreich und innovativ den von Ralf Hütter geprägten Terminus Electronic Body Music hoch über ihren Köpfen schwenkten. Mit dem Track „Headhunter“ von „Front By Front“ turnten die Belgier sogar in den US Billboard Charts ziemlich weit oben. Wie erklärt sich dieses Alleinstellungsphänomen?

Thaddeus Herrmann: Dem stimme ich schon mal überhaupt nicht zu. Die „elektronische Pfanne“ brutzelte – um mal im Bild zu bleiben – heftigst. Die letzten waren sie also sicher nicht. Aber das gesamte Genre der EBM war zu diesem Zeitpunkt, also 1988, dabei sich zu wandeln. Front 242 waren zu diesem Zeitpunkt ja schon lange aktiv und schwammen im Strom der belgischen Bands und Projekte mit, waren dabei aber wahrscheinlich die Erfolgreichsten. Ich finde das Album interessant, weil es diesen Umbruch in ihrem Sound so explizit herausstellt. Tracks wie „Headhunter“ oder „Circling Overland“ sind ganz klassisch 242 – „Headhunter“ dazu noch der vielleicht größte Hit der Gruppe, was nicht zuletzt auch auf das Eier-Video von Anton Corbijn zurückzuführen ist. Gleichzeitig hört man hier aber zum ersten Mal wirklich den Techno heraus. Da spielt der New-Beat-Einfluss mit rein. Hier vermischten sich Szenen. Es wurde also technoider. Und das – ganz ehrlich – fand ich immer schwierig. Weil es zumindest auf Platte für mich nicht so recht funktionierte. Ganz anders als live. Warum ging „Headhunter“ nun so durch die Decke? Erstens: guter Song. Zweitens: Die Band hat sich das ja auch erpinselt – mit Tracks wie „Quite Unusual“ oder „Masterhit“ im Jahr davor und endloses Touren. Details »

Rewind: Klassiker, neu gehört – Public Enemy – It Takes A Nation Of Millions To Hold Us Back (1988)

Rewind: Klassiker, neu gehört
Public Enemy – It Takes A Nation Of Millions To Hold Us Back (1988)t

Das Filter – Gespräch: Thaddeus Herrmann, Martin Raabenstein – 16.07.2018

Chuck D, Flavor Flav, Professor Griff, Khari Wynn und DJ Lord zählten mit ihrem zweiten Album die US-amerikanische Gesellschaft und die HipHop-Welt gleichermaßen an. Bessere Raps, bessere Produktion, bessere Samples: Die Angst vor dem schwarzen Planeten zog bereits am Horizont herauf. Die dringliche Melange, die gemeinsam mit Rick Rubin für dessen Label Def Jam entstand, hallte lange nach und wurde zur Blaupause einer musikalischen Protestkultur, die einen noch heute die Faust recken lässt. Die Themen und deren musikalische Umsetzung von Public Enemy sind heute aktuelle denn je. Martin Raabenstein und Thaddeus Herrmann überprüfen das Album 30 Jahre später auf die vermaledeite Authentizität, jetten zwischen der Ost- und Westküste hin und her und stellen schließlich die Fragen aller Fragen: Was denkt wohl Kendrick Lamar über „Bring The Noise“?

Martin Raabenstein: Besser kann es ja gar nicht passen. Nach Talk Talk erneut derselbe Begriff – Authentizität. Andere Lesart, komplett gegenteilige Baustelle, Blackness als politischer „It Takes a Nation of Millions to Hold Us Back“ ist nicht die erste klar gerichtete Botschaft – auch Gil Scott-Heron, Grandmaster Flash and the Furious Five hatten alle schon den Zeigefinger oben. Mit diesem Album aber kommt die dicke Welle, das Statement wird laut und rauher. Schon allein der Bandname ist Programm: „The Black man is definitely the public enemy“. Das ist keine Beastie-Boys-Partymucke, hier kochen die Kessel.

Thaddeus Herrmann: Wir wollten Authentizität doch als Unwort im Schrank lassen! Ich kann das auch schlecht bis gar nicht einschätzen, weil mir die Historie des HipHop einfach abgeht – ich kenne mich nicht aus. Das Album ist jedoch mit seiner In-Your-Face-Attitüde ein großer Wurf. Was ziemlich bemerkenswert ist, weil der Vorgänger – nur ein Jahr zuvor erschienen – längst nicht so weit ist. Da klingt Chuck D eher wie ein nölender Beastie Boy, der noch nicht so recht weiß, wie das alles werden wird. Auch die Produktion ist vergleichsweise lahm. Rick Rubin scheint sich hier einen neuen Kompressor zugelegt zu haben. Gute Entscheidung. Details »