Rewind: Klassiker, neu gehört – Boards Of Canada – Music Has The Right To Children (1998)

von | Sep 5, 2018 | Allgemein, Archiv 2018, Reviews | 0 Kommentare

Rewind: Klassiker, neu gehört
Boards Of Canada – Music Has The Right To Children (1998)

Das Filter – Gespräch: Thaddeus Herrmann, Martin Raabenstein – 05.09.2018

Die definitiven Superstars der Electronica? Boards Of Canada! Das Mystery-Bruderpaar aus Schottland – Michael Sandison and Marcus Eoin – daddelte in den 1990er-Jahren erst ein paar Jahre vor sich hin, startete dann auf SKAM durch und wurde auf Warp zu einer musikalischen Ikone. „Music Has The Right To Children“ erschien ebenda, 1998. Das erste „Album“ war kaum mehr als eine Compilation, die dennoch wichtiger nicht hätte sein können. So wurde der introvertierte Sound-Entwurf der Boards in die große weite Welt katapultiert und rumort seitdem heftigst, auch wenn neue Veröffentlichungen rar und immer seltener werden. Boards Of Canada stehen heute für einen vollständig eigenen Sound-Entwurf, der zwischen Verschwörungstheorien und ganz persönlicher Nostalgie oszilliert – eine Steilvorlage für alle Beteiligten. Martin Raabenstein und Thaddeus Herrmann hören sich durch die Tracks und Samples, die erst mit einer Prise virtuellem LSD richtig gut werden, holen den Radioempfänger aus dem Keller, um die Number Stations zu checken und fragen sich 20 Jahre später, welche Relevanz solche Entwürfe für die Musik von heute noch haben. Ein Mashup bringt Licht ins Dunkel der popkulturellen Grobkörnigkeit.

Martin Raabenstein: Mit „Music Has The Right To Children“ lauschen wir dem exakten Gegenentwurf zu Massive Attacks „Mezzanine“ von neulich, sozusagen dem Laurel zum Hardy. Diesem sexy aber gleichwohl im dunkelsten Dunkel fischenden Projekt wird hier Ironie, Wortspiel, Zahlenmythologie und nahezu kindliche Naivität entgegengesetzt. Das ist Psychedelic in Mikrodosierung. Bemerkenswerter Weise diskutiert man heute, 20 Jahre später, über LSD für die Massen, in wohl dosierter Globuli-Darreichung.

Thaddeus Herrmann: Gegenentwurf? Eher nicht. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass es da Berührungspunkte gab und Telefonnummern gespeichert wurden. Wir haben es hier ja auch gar nicht mit einem Album zu tun, sondern vielmehr mit einer Compilation. Aufgepeppt und rund gemacht, mit neuen Stücken ergänzt, aber es ist letztlich doch nur eine Compilation. Die beiden schottischen Brüder ordnen hier ihr Frühwerk. Das ist gut, weil es zuvor ziemlich zerfasert vorlag und viele der Platten ohnehin nicht verfügbar waren. Die „High Scores“-EP auf SKAM war zuvor erschienen. Das Label aus Manchester durchlebte damals den Hype der Hypes und davon profitierten auch die Boards Of Canada. Und dann kam Warp um die Ecke. Ich möchte gerne etwas aus dem Pressezettel von damals zitieren: „Eine Sammlung schon bekannter und bisher unveröffentlichter Tracks. Michael und Marcus liefern einen kleinen Ausblick auf Ende 1998, wenn ein neues Studioalbum von Boards Of Canada das Licht der Öffentlichkeit erblicken wird. Boards Of Canada bewegen sich in einer Welt von Kraftwerkscher Schönheit, kühler Ästhetik und des perfekt gesetzen Beats.“
Dazu fällt dir doch bestimmt was ein?

Martin: Gegenentwurf. Die Schnittfläche ist die obligate HipHop-Beschlagzeugung. Alles andere ist „The Dark Side Of The Massive Attack Moon“ – Lo-Fi-schwanger, analog schleifende Synths, Field Recordings und schwindelig machende Kinderinstrumente. Während sich bei Massive Attack die Vocals im weitesten Sinne in Pop-Strukturen bewegen, sind es auf „Music Has The Right To Children“ editierte Samples im Byrne/Eno-Style. Der musikalische Kanon der Brüder schwimmt indes brav im Anfang-90er-Warp-Pool à la Speedy J oder den frühen Autechre. Letzteren kam dann ja auch ein Demo der Boards Of Canada zu Ohren, das dann bei SKAM landete. Novel finished.

Thaddeus: Ich dachte, auf die Kraftwerk-Möhre aus dem Info steigst du ein. Schade. Weil das nun schon wirklich brutalst aus der falschen Nase gezogen ist.

Martin: Eben.

Thaddeus: Da hätten wir jetzt doch schön fünf Minuten drüber lachen können.

Martin: Tun wir doch sowieso, nur still.

Thaddeus: Gut. Ich fang vorne an. Ich kann nämlich die ganze Aufregung von damals heute nicht mehr so ganz verstehen. Meine eigene eingeschlossen. Das ist alles recht hübsch und niedlich und gut produziert. Die Beats sitzen. Das Album ist aber, wie ich finde, nicht sonderlich gut gealtert. Oder anders gesagt: Die Highlights sind Highlights, die sind jedoch tatsächlich rar. Es ist hauptsächlich eine schön anzusehende und anzuhörende Sammlung von rosa Wölkchen, in die man viel hineininterpretieren kann und vielleicht auch muss. Sonderlich trickreich ist das aber nicht.

Martin: Im Gegenteil, genau hier liegt das gänzlich andere Selbstverständnis der Band. Auf diesem Album wird mit geheimen Botschaften gespielt, verschwörungstheoretische Mathematik mit christlichem Mythos vermischt. Eoin und Sanderson fingen hier erst mit dem Spiel an, später dann entstand daraus ein regelrechter Fankult, den gelegten Spuren nachzuschnüffeln.

Thaddeus: Ja, das wurde später Thema, später ist aber eben auch später. Hier? Im Leben nicht. Das sind zwei Jungs, denen langweilig war und in der Musik eine schöne Abwechslung gefunden haben. Dafür bin ich heute auch noch sehr dankbar. Aber der Sample-Layer ist doch in all seiner Effektivität ziemlich halbseiden. Alles drin. Von Sesamstraße bis zu abstrahierten Number Stations.

Martin: Das hier war erst der Anfang. Als bekennende Fans der psychedelischen Phase der Beatles spielen die beiden sehr deutlich mit dem Helter-Skelter-Effekt, Charles Manson grinst da unübersehbar aus der teuflischen Ecke. Der Wahnsinn, der daraus entstand, aus rückwärts gespielten Beatles-Tracks Mordaufforderungen herauszuhören, hielt auch 30 Jahre später die Nerds nicht davon ab, auf inhaltliche Trüffelsuche zu gehen. Da ist ein Bedürfnis zu verspüren, sich wie früher so ganz langsam vom Cover über die Liner-Notes zur eigentlichen Musik vorzutasten. Lass Lara Croft im „Da Vinci Code“ stöbern und gar schauerliche Dinge treten zutage. Das ist mehr als nur Contemporary Patina aus den späten 90ern. Von den eindeutig satanischen Bezügen auf „Geogaddi“ mal ganz abgesehen.

Thaddeus: Versteh ich alles, glaube ich zumindest. Setzt ja aber voraus, dass das von den Musikern von vornherein so angelegt worden ist. Darüber würde ich gerne mal eine Enthüllungsgeschichte im Stern lesen. Ich glaube das einfach nicht. Und „Geogaddi“ war ja nun auch 500 Jahre später – wir hören gerade eine ganz andere Platte. Hier machen es sich die beiden einfach kuschelig im Studio. Und schmeißen so alles in den Ring, was sie beschäftigt und begeistert. HipHop – natürlich mit Samples –, der Elektronika-Sound der 90er und fertig. Zahlenfolgen als Samples in Tracks zu droppen, ist weder ein eindeutiger Hinweis auf eine schottische Naturreligion noch auf Verschwörungstheorien. Das kann auch einfach nur gut klingen. Ich halte diese Parts nicht für die entscheidenen. Man muss die Platte so hören wie das, was auf ihrer Oberfläche passiert. Und genau dort ist es doch sehr angenehm. Ein bisschen grell mitunter – pardon: orange! –, aber doch vor allem rosarot und sehr melancholisch. Du hattest oben das Stichwort „naiv“ genannt. Das halte ich hier im positivsten Sinne des Wortes für ausschlaggebend. Die Tracks spiegeln eine unbedarfte Auseinandersetzung mit dem Schönen und den eigenen Erinnerungen wider. Nicht mehr, nicht weniger.

Martin: Du bist eben Skeptiker. Das ist ganz okay so, aber da fehlt einfach der Spaß. Hat denn deine „Aquarius“-7″ hier nicht auch schon Klebestreifen hinten, mit Blindenschrift drauf? Dabei handelt es sich möglicherweise, wie ich vermute, entsprechend aller kalligrafischen Tattoos die so täglich an mir vorbeitraben, nur um die Aufschrift „Rückseite“.

Thaddeus: Das ist nicht auszuschließen, ich muss dennoch reingrätschen. Denn dieses Element geht nicht auf die Band zurück, sondern ist eine Design-Metapher des Labels. Alle SKAM-Releases hatten zu dieser Zeit diesen Klebestreifen.

Martin: Das schottische Duo hatte aber schon immer viel Freude daran, dieses „Mehr-an …“ in ihre „an-genehme“ Musik zu drehen. Anlässlich des Record Store Day 2013 tauchten weltweit verteilt sechs 12″s als Einzelstücke mit jeweils einem gesprochenen Zahlencode nebst einem kleinen musikalischen PlingPlong und der Beschriftung “—— / —— / —— / XXXXXX / —— / ——” auf . Die 12″s wurden von Fans aufgestöbert, die Codes im Netz geteilt und in der richtigen Reihenfolge zusammengesetzt. Damit erhielt man Zugang zu einem speziell gesicherten Bereich der Website der Band. Das Internet als Meta-Verpackung zur Mucke. Ganz großes Tennis! Die Geschichte kennst du, auch wenn du das alles auf diesem Album hier natürlich noch nicht hören kannst. Aber der erste Stein zur Wertverlustminderung durch Diversifikation ist gesetzt. Was genau wir hier hören, das hattest du schon sehr richtig beschildert, ist flausch-gespülte, unwürdig gealterte Historie. Wir sollten endlich mal eine Tafelrunde mit Psychologen und Neurologen zusammen abhalten – zum Thema „Musikrezeption und Selbsterzählung. Wie fest verankert sind Erinnerungen?“

Thaddeus: Ich erinnere die Details dieser Kampagne nicht mehr vollständig. Aber Kampagne ist das richtige Stichwort: Marketing ist dann am besten, wenn es mysteriös daherkommt. Und Warp kann das. Mit ihren besten oder vielmehr ältesten Pferden im Stall machen sie das ja heute noch. Diese Fraktal-Anzeigen, die neulich für die neue Aphex-Twin-EP erst hochploppten: gleiche Nummer.

raabe