Hängengeblieben 2017
Unser großer Jahresrückblick
Das Filter – Die Raabenstein Beiträge vom 22.12.2017
So. Wie war denn nun das Jahr 2017? Besser oder schlechter als die letzten beiden oder hat man es sich bereits in den postfaktischen Trump-AfD-Neonazi-Zeiten nischig bequem gemacht? Wie auch die letzten Jahre gibt es dieses Jahr den großen Das-Filter-Jahresrückblick. Was ist hängengeblieben von 2017? Wie immer subjektiv, perspektivisch und independent erklären unsere Autoren und Redakteure, was ging in den Bereichen Musik, Kultur, Technik, Gesellschaft und Medien. Auf ein gutes 2018. Euer Das-Filter-Team.
Angst
Wenn John Cage sich wunderte, warum Menschen Angst vor neuen Ideen haben, er hingegen aber die alten fürchtete, sind wir mitten beim Thema: Angst. Oder besser deren Zurschaustellung. In früheren Zeiten wohlwollend als medizinisch zu behandelnder Gemütszustand betrachtet, scheint in der jüngeren Vergangenheit die Heilung weniger angestrebt als vielmehr den angsterfüllten Status Quo zu halten. Die Hilflosigkeit reizt vermeintlich zum Verbleib in diesem Gefüge, das Opfer möchte Opfer bleiben und dies laut herausschreien. In einer Zeit grenzenlos optimierter Datenverbreitung sucht das geschundene Tier nach Verbündeten – atemberaubend, wie sich in diesem Zusammenhang die Geschwindigkeit des Netzes mit massensammelnder Hysterie zu einer ohrenbetäubenden Stampede verdichtet. Nix Neues soweit? Glüht gerade wirklich an jeder Ecke ein neuer Topf auf, mit wütend herausquellenden Themen und Thesen? Zieht man an dieser Stelle die individuelle Trennlinie zwischen zu befürwortenden Standpunkten und den weniger verständlichen bis obskuren Theorien, rasselt sich die Welt en gros zum fahnenschwingend kämpferischen Aufbruch. Toilettennutzung, Artensterben, Düngemittel, Fleisch, mit den schon etwas älteren Positionen Waffen, Migration, Kapitalismus, Sexismus und Rassismus irgendwo im Mittelfeld, Bahnhöfe, Flughäfen oder Fahrzeuge mit Verbrennungsmotor sind irgendwo auch noch dabei. Die Zeit, in der man gegen den Vietnamkrieg auf die Straße ging oder gegen Atomkraft demonstrierte, wirken dagegen wundersam friedlich und überschaubar. Dazu noch, auf allen wimpelschwingenden Stangen, die Moral. Verbunden mit der Angst zwei eng umschlungene und äußerst gefährliche Weggefährten. „Bist du nicht mein Freund, bist du mein Feind“ ist der neue Sex. Die Zeit des vermittelnden Gespräches scheint vorüber. Die Gemüter sind erhitzt, der Planet brennt. Kommen da noch die zu erwartenden zwei bis drei Grad Erderwärmung hinzu, explodiert der Kessel. Spannend eigentlich, aber gefährlich.
Gotham
Jeder halbwegs erfolgreichen Geschichte wird ein Prequel hintan gesetzt, so funktioniert der Markt. Mit unterschiedlich erfreulichen Ergebnissen. Ob nun bei „Star Wars“, „Alien“ oder „Hannibal“: Wenn genreübergreifend an deiner Geldbörse gezupft wird, warum sich nicht auch an Batman wagen? Seit 2014 on air ist die Serie „Gotham“, seit September in der vierten Season, auf Deutsch sind drei Staffeln erhältlich. An der Idee, Batman und desgleichen Pinguin, Riddler, Poison Ivy oder Catwoman auf ihrem Weg zu dem zu begleiten, wie wir sie kennen, wäre zunächst nicht weiter erwähnenswert. Der Drehbuchautor Bruno Heller hingegen, zuvor für Serien wie „Rom“ und „The Mentalist“ verantwortlich, verhilft der Idee des Comics zu ursprünglicher Größe, indem er die wahren Stärken des Mediums nutzt. Hier geht es nicht um einen eigentlich ganz normalen Jungen mit etwas Spucke an den Händen, wie in der kläglichen „The Amazing Spider-Man“-Serie. Heller befreit seine Protagonisten von ihrem allzu einschränkenden Realitätsbezug und flutet den Bildschirm mit albernen, brutalen, schnellen, überraschenden Ideen. Das ist Comic pur. Zu lange in die Popcorn-Tüte gelinst, schon wieder alles verpasst? Genau, das kann hier schon mal passieren. Rewind! Großes Kino. Bang.
Das Kunstjahr
Wart ihr auf der Documenta in Kassel? Am parallelen Spielort in Athen auch nicht? Bei „Skulptur Projekte“ in Münster, der Biennale in Venedig? Ihr wisst schon, dass so ein super Kunstjahr nur alle zehn Jahre stattfindet, eine solch monumentale Darbietung euer künstlerisches Weltbild neu ordnet und eure tief empfundene Sehnsucht nach alternativen Szenarien zur aktuellen politischen Situation befriedigt? Nein? Vergesst die Bitcoin-Welle, sammelt Kunst, das bringt Money Money Money! Zu riskant, auch nur eine weitere Blase? Sehr gut, werdet selber Künstler! Es gibt so viel Interessantes zu tun, so unendliche Weiten zu entdecken, dafür braucht ihr kein Raumschiff. Macht die Augen auf, alles was ihr in eurer unmittelbaren Umgebung seht, wird zum Material. Nehmt einen Bleistift, brecht die Spitze ab und macht damit eine Zeichnung. Eine exakte Abbildung eurer als ungerecht empfundenen Realität wird entstehen. Die Speichen an eurem Fahrrad, nehmt sie heraus und hängt sie frei nach eurem individuellen Empfinden an die Wand. Sind sie nicht Sinnbild für den erschreckenden Terror des Bewegungszwangs, das Symbol eurer fremdgesteuerten Unterdrückung? Befreit euch von der Last eurer Kleidung. Geht nackt auf die Straße und performt den Tanz des ungeschorenen Schafes. Die Tiere werden es euch danken. Wenn ihr euch sicher fühlt, könnt ihr natürlich auch selbstständige Gedanken entwickeln. Wie, ihr möchtet nicht? Habt einen Plattenspieler gekauft und schon ein paar Scheiben in der Sammlung? Auch gut.
Luxus
Jung, reich und schön, am besten noch berühmt: Man kann es niemandem verdenken, das gerne sein zu wollen. Wirklich? Wer räkelt sich nicht gerne zur Mittagszeit auf der Boxspringmatratze, wohlig warm unter leinener Bettwäsche, leicht angekatert nach einer weiteren fantastischen Nacht, in einer dieser fantastischen Metropolen, auf dieser fantastischen, so wohlhabenden, herrlichen Welt? Mit all diesen bezaubernden Menschen, die nur dazu geschaffen sind, dein Leben zu einer nicht enden wollenden Party zu machen? Ein kurzer Blick auf das Smartphone, noch keine Meldungen, die anderen jungen, reichen und schönen Berühmtheiten schlafen wohl noch. Dann der Roomservice, ein kurzer Anruf nur. Nochmal kurz in diese gottvolle Decke gekuschelt, schon halb am Wegdösen wieder, da kommt es schon, dein wohlverdientes Frühstück. Wird ja auch Zeit. Die Schnecken in Markknochenscheiben, sanft umrahmt von geräucherter Crème Fraîche, das Granola-Müsli, eine Kanne handgebrühter, frischer Kaffee, der Granatapfelsaft, selbst das Schälchen Sauerrahmbutter auf Eis lächelt dich an. Welch Glück auf Erden! Du greifst in das Körbchen, doch das Körbchen ist leer. Wo ist das Brötchen? Das leckere, frisch aus dem Ofen zu dir gekommene, im Mund knackige, dein Frühstück abrundende Sauerteigbrötchen? Du weißt es nicht? Wie sollst du auch: Neben dir, unter dir, in allen Zimmern, auf allen Etagen liegen deine Freunde, erwachen gerade oder träumen noch in seligem Schlaf. Und weil sie alle da so vor sich hinkuscheln, nun ja, ganz ehrlich – keiner will mehr dein Brötchen machen, wer ist denn auch so ein Nerd, die Nacht nicht zum Tag und sein Leben zur Dauerparty zu machen, wenn er denn kann. Wer stellt sich um vier Uhr morgens in die Backstube und mehlt sich zu. Du? Im Leben nicht. Also, vergiss dieses Lebensmittel heute und morgen auch. Keine Teigführung und ab ins Bett, wer braucht denn da noch so ein nebensächlich und erbärmliches Produkt wie ein Brötchen. Das verstehst du doch, oder?
Merkel
Es gibt Witze über ehemalige Staatsoberhäupter, die später einem Genussmittel zugeordnet wurden. Napoleons Cognac zum Beispiel oder auch Bismarck und der Hering. Da der Abgang Merkels weiterhin nicht auf der bundesdeutschen Agenda steht, verbleibt es auf unbestimmte Zeit ein süffisantes Rätsel, welcherart Viktualie diesem politischen Urgetüm zukünftig zur Seite gestellt werden könnte. Merkels Karriere und Wirken, rein analytisch betrachtet, lässt in dieser Richtung einiges vermuten. Eher unscheinbar im Auftritt, aber stark in der Behauptung. Verhalten in der Präsenz, aber dennoch in aller Munde: Alles deutet auf etwas Grundsätzliches denn slick Exquisites hin. Das „Filet Merkel“ ist hierbei undenkbar. Dass die Welt führerlos erscheint, wenn der Kanzlerins parteizermahlendes Werben für eine weitere Amtszeit den zukünftigen Koalitionär eher verschreckt als verlockt, treibt der internationalen Presse das karge Haupthaar in die Höhe. Interessiert sich die geneigte Öffentlichkeit in Paris und Madrid eher für die gelungene taktische Finesse der Machtpolitikerin, so deutet dies, entsprechend unserer speziellen Fragestellung, auf eine gewisse und ihr ganz eigene Manier hin. Ein altes Hausmittel nach der unschönen Verteilung von Rotwein auf den gerade neu verlegten Teppich bringt uns weiter auf die Spur. Man verwende Salz und streue es über den Unfallort. Dieses saugt den Traubensaft aus dem Au-Courant-Wohnaccessoire, dann der Staubsauger und weg der Fleck. Betrachtet man nun die Wahlergebnisse der jeweiligen Juniorparteien nach vierjähriger Paarung mit dieser Dame, stellen sich verblüffende Parallelen ein. Fort die Wählergunst, einfach aufgesaugt: So klein die verbleibende Zuneigung, so groß das Geheul. Das Ausland nimmt dies gelassen, Stabilität soll groß über dem Reichstag scheinen. Für eine politisch gesunde Diskussion ist dies gelinde gesagt fatal, das Merkel’sche Salz ruiniert dauerhaft die Suppe der anderen Mitbewerber, vom Verhalten gegenüber starken Persönlichkeiten in ihren eigenen Reihen ganz zu schweigen. Und wird dabei auch noch gefeiert. Mahlzeit.
NxWorries
Als NxWorries (No Worries) 2015 ihre EP „Link Up & Suede“ veröffentlichten, hatte die Musikwelt neue Superhelden. Der Titeltrack „Suede“ war strahlender Stern in jedem relevanten Mix und ein Megahit auf SoundCloud und YouTube. Bei Stones Throw unter Vertrag sind Anderson Paak und Glen Earl Boothe aka Knxwledge die ideale Singer/Rapper-Producer-Kombi, nebenbei mit erstaunlichen Solokarrieren. Auf das ebenfalls durchschlagende 2016er-Debütalbum „Yes Lawd!“ folgte im November diesen Jahres die Remix-Scheibe. Durchaus übliche Vorgehensweise soweit, wäre „Yes Lawd! Remixes“ die gerade gehaltene Mischbatterie mit den derzeit angesagten Names in XXXXL-Überlänge. Nicht so dieser Player. Anstatt den Massen den Househalt smooth zu bestücken, greift Knxwledge tief in seine Multigenre-Trickkiste und verwandelt, besser schrumpft das Material zu extrem fokussierten Mikrokosmen in typischer J-Dilla-Mixtape-Manier, meist knapp an oder unter der Zwei-Minuten-Länge. Dass er dem Don in nichts nachsteht, ist nicht die spannende Erkenntnis, hier dreht keiner am haschenden Effektregler, hier konstruiert einer Welten und noch eine und noch eine. Folgt man seiner Diskographie, hat Boothe seit 2010 über 60 (!) Alben veröffentlicht. Da hat wohl einer was zu sagen.
Schuld
Schuld ist eine harte Waffe, man muss sie nur zu nutzen wissen. Während die eine Religion dich als schuldig von Geburt an in ihren Büchern führt, lässt dich die nächste in die unentrinnbare Falle der Blasphemie tappen. Denn: Derjenige, der die Blasphemie hört, kann die Tat zwar anzeigen, nicht aber deren Inhalt, er würde sich sonst selbst schuldig machen. Das ist Schuld ohne direkten Beweis, ohne Zeugen, eine klare Carte Blanche, ein intelligent eingefädelter Anreiz zur Denunziation. In Zeiten der Hexenverfolgungen – eine durchaus vergleichbare Situation – war eine der bedeutendsten Garantien demokratischen Denkens, die unabhängige Rechtsprechung, noch unbekannt. Alles scheint sich zu wiederholen. „Im Zweifel für den Angeklagten“ hängt der Muff alter Zeiten an und ist das exakte Gegenteil des heutzutage grassierenden Shitstorm-Wahns. Zu reizvoll die Treibjagd, zu erregt, die sich im Recht sehende Meute. Die größtmögliche Wirkung erzielt hierbei logischerweise der Generalverdacht. Mexikaner, Migranten, Männer, egal welches Thema, aus welcher soziopolitischen Richtung der Fingerzeig auch kommen mag, die wütende Masse brüllt sich in die Entrüstung. Ob an den Stammtischen oder im bundesdeutschen Feuilleton, der gemeinsame Brunnen ist vergiftet. Im Sturm der entfachten Emotionen erstickt das kümmerliche Licht der Hoffnung auf Dialog. Der Verdacht ist Beweis und Richterspruch in einem. Willkommen im Mittelalter 2.0.