
Mitgehört: Musik aus dem Filter-Schwarm
Heute: Martin Backes – Künstler, Hacker und Musiker
Das Filter – Protokoll vom 03.6.2019
In seiner Kolumne „Mitgehört“ befragt Martin Raabenstein ganz unterschiedliche Menschen, was sie musikalisch umtreibt. Von prägenden Momenten bis zu aktuellen Highlights: Die Jukebox des Filter-Schwarms wird mit jeder Folge bunter. Dieses Mal: Martin Backes. In seiner Kunst ist der Wahlberliner multi- und interdisziplinär unterwegs, Musik dabei oft eine entscheidende Komponente. Das kommt nicht von ungefähr. Denn Backes war erst Club-Betreiber und DJ, bevor er sich mehr und mehr der immersiven Kunst verschrieb. So jemand legt sich nicht auf einen Style, einen Track oder ein Album fest, wenn Martin Raabenstein mithört. Gut so.
Lieber Martin, stell dich doch zunächst kurz vor.
Ich wurde 1977 in Rosenheim geboren. Meine Eltern betrieben damals eine Pension in den Bergen. Dort habe ich aber nur die ersten beiden Jahre meines Lebens verbracht, dann sind wir zurück nach Franken. Aufgewachsen bin in dann also in Schweinfurt im schönen Frankenland. Nach der Schule habe ich eine Ausbildung als Brauer und Mälzer abgeschlossen. Ich war aber nie richtig glücklich damit und habe bereits erste Gehversuche als Musikproduzent und DJ unternommen. Die Kunst hatte es mir ebenfalls angetan. Ich habe dann irgendwann in Bamberg mit Freunden einen Club namens Morph betrieben, wo ich hauptsächlich als Resident DJ tätig war. Später habe ich im ganzen Land aufgelegt und auch in Bands gespielt. Zu diesem Zeitpunkt, also vor rund 25 Jahren, war ich praktisch ständig in Berlin, und die meisten meiner Freunde waren schon längst übergesiedelt.
Der Club hatte mich damals etwas länger gehalten als gewollt, aber so um 2000 bin ich dann ebenfalls nach Berlin gezogen. Das war noch zu D-Mark-Zeiten, verrückt! Ich habe dann erst mal mein Abitur auf dem zweiten Bildungsweg nachgeholt. Danach habe ich zweimal studiert: Sound Studies/Akustische Kommunikation und Mediendesign/-kunst, beides an der UdK Berlin. Während des Studiums habe ich bereits zwei Studios gegründet, die auch immer noch existieren. „Studio Martin Backes“ für meine Kunst und „aconica – creative lab for sound + media“ für kommerzielle Projekte an der Schnittstelle von Design, Sound und Technologie. Außerdem habe ich viele Jahre als Sound Designer und auch als Interaction/UX- Designer und -Berater gearbeitet. Im Grunde bin ich als Freelancer für andere Firmen tätig, und als Künstler und Unternehmer für meine eigenen bereits erwähnten Unternehmen. Außerdem unterrichte ich seit gut zehn Jahren immer wieder als Dozent an diversen Hochschulen. Details »
Published on 03/06/2019 14:15.
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Mitgehört: Musik aus dem Filter-Schwarm
Heute: Robert Ries, angehender Politologe
Das Filter – Protokoll vom 20.05.2019
In seiner Kolumne „Mitgehört“ befragt Martin Raabenstein ganz unterschiedliche Menschen, was sie musikalisch umtreibt. Von prägenden Momenten bis zu aktuellen Highlights: Die Jukebox des Filter-Schwarms wird mit jeder Folge bunter. Dieses Mal: Robert Ries. Der 23-Jährige studiert Politologie – mit HipHop, Rock und Techno.
Lieber Robert, stell dich doch zunächst kurz vor.
Geboren wurde ich 1996 in Zweibrücken, als Sohn einer Lehrerin und eines Bildhauers. Dort habe ich auch das Abitur gemacht. Mein dreisemestriges Jura-Studium in Mannheim fand ich nur mäßig spannend, darum wechselte ich 2017 zu Politikwissenschaften mit Beifach Philosophie, ebenfalls in Mannheim. Schon früh war mir die Bedeutung von Bildung klar, darum habe ich immer darauf verzichtet, meine Lehrer grundsätzlich als scheiße abzustempeln. Doch Bildung findet man nicht nur in Klassenzimmern, sondern auch auf der Straße, so bin ich gerade dabei, während eines Urlaubssemesters die Welt zu entdecken. Die Wahrheit liegt nur im Kompromiss. Word!
Schön, dass du uns in deinen musikalischen Alltag schauen lässt. Bevor es damit losgeht: Woran arbeitest du gerade?
Vielen Dank für die Einladung! Wenn man mich sieht, wie ich gerade chille, dann denkt man wahrscheinlich, dass ich viel am Faulenzen bin. Doch das stimmt so nicht ganz. Ich arbeite einfach an mir selbst und versuche, so viele neue Eindrücke aufzunehmen, wie es nur geht. Deshalb habe ich auch mein Studium der Politikwissenschaft und der Philosophie für ein Semester pausiert, um den Frühling in ganz Europa zu verbringen. Ich war schon viel in Westeuropa, also Frankreich, Italien und Belgien unterwegs – den Osten versuche ich mir jetzt via Interrail zu erschließen. Man kann, der Globalisierung sei dank, überall mit Leuten ins Gespräch kommen, und für mich ist das immer sehr aufschlussreich. Die Politik als Ausfluss des jeweiligen kulturellen Verständnisses ist dazu auch ein hervorragender Anknüpfungspunkt. Ich bin sehr froh, von Jura zur Politikwissenschaft gewechselt zu haben, so konnte ich ein enges und lokal begrenztes gegen ein breites und globales Studienfach eintauschen. Details »
Published on 03/06/2019 14:08.
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Mitgehört: Musik aus dem Filter-Schwarm
Heute: Frederik Van de Moortel, Komponist und Sound Designer
Das Filter – Interview vom 29.04.2019
In seiner Kolumne „Mitgehört“ befragt Martin Raabenstein ganz unterschiedliche Menschen, was sie musikalisch umtreibt. Von prägenden Momenten bis zu aktuellen Highlights: Die Jukebox des Filter-Schwarms wird mit jeder Folge bunter. Dieses Mal: Frederik Van de Moortel. Der Belgier hat die Musik für zahlreiche Kinofilme komponiert, ist gefragter Sound Designer und am Theater aktiv. Dabei arbeitet er nicht nur im stillen Kämmerlein seines Antwerpener Studios, sondern gibt seine Expertise auch als Lehrer an die nächsten Generationen weiter. „I design sound“ sagt er über sich selbst. Ein Understatement, das nur Menschen droppen können, die mit so vielen Projekten gleichzeitig jonglieren, wie Jeff Mills früher bei einem DJ-Set Platten brauchte.
Lieber Frederik, stell dich doch zunächst kurz vor.
Mit acht Jahren habe ich mir im Schlafzimmer mein erstes Studio gebaut: mit Tapedeck und einem analogen Synth. Ich wollte Filmmusik machen. Daran hat sich bis heute überhaupt nichts geändert, mehr als drei Jahrzehnte später mache ich noch immer dasselbe. Für weitere 30 Jahre habe ich mich auch schon beworben.
Schön, dass du uns in deinen musikalischen Alltag schauen lässt. Bevor es damit losgeht: Woran arbeitest du gerade?
Ich habe gerade den flämischen Film „Cleo“ und das spanische Mixed-Media-Projekt „El Sustituto“ als Sound Designer und Mixer beendet, ebenso die Komposition für das Theaterstück „Een paar is twe“. Parallel dazu habe ich die Arbeit an dem Animations-Kurzfilm „Lying Angel“ begonnen und werde in Kürze für die holländische Schriftstellerin und Performance-Künstlerin Simone Millsdochter an ihrem neuen Theaterstück arbeiten. Und dann ist da noch mein Lehrauftrag für Sound Design und Komposition an der „Luca School Of Arts“ in Brüssel – das nimmt eine Menge Zeit in Anspruch. Details »
Published on 29/04/2019 12:22.
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Rewind: Klassiker, neu gehört
The Cure – Disintegration (1989)
Das Filter – Gespräch: Thaddeus Herrmann, Martin Raabenstein vom 17.04.2019
Am 2. Mai 1989 erschien das achte Studioalbum von The Cure. „Disintegration“ gilt als eine der einflussreichsten Platten der Band um Robert Smith überhaupt. Zwei Jahre nach „Kiss Me Kiss Me Kiss Me“, dem im grellem Orange leuchtenden Doppel-Album, kehrt die im freien Fall befindliche Gruppe zur konzeptuellen Düsternis zurück, die sich jedoch in einem ganz anderen Sound präsentiert. Martin Raabenstein und Thaddeus Herrmann heuern auf einem Öltanker an und schippern 30 Jahre zurück in die Vergangenheit. Zwischen den Stromschnellen der Geschichte des hochtoupierten Leidens wird schnell klar, dass die gemeinsame Seefahrt weder lange dauert, noch lustig ist. Ist das noch innovativ oder nur noch rezitativ? Simon Reynolds wirft den beiden Rezensenten den Rettungsring des Best-of zu, stimmt das „Lullaby“ an, kann aber auch nicht verhindern, dass es kommt, wie es kommen muss. I will always love you.
Martin Raabenstein: Vorsichtige Annäherung von mir diesmal.
Thaddeus Herrmann: Oha, ich rieche Trouble.
Martin: Irgendetwas in mir will mächtig auf die Kacke klopfen, macht es aber nicht.
Thaddeus: Dann erzähle ich dir erstmal, wie ich dieses Album kennengelernt habe. Das muss im Sommer 1990 gewesen sein, also ein Jahr, nachdem es erschienen war. Wir waren auf Kursfahrt in Krakow, es ging gen Auschwitz. Einen Tag machten wir einen Ausflug in ein stillgelegtes Bergwerk. Mit Kapelle und Tennisplatz unter der Erde. Davor war ein kleiner Kiosk und dort kaufte ich das Album auf Bootleg-Tape. Bekam man damals überall in der Gegend – für ungefähr 15 Pfennige pro Kassette. Die restlichen Tage hörte ich die Platte im Walkman. Fand ich toll. Details »
Published on 24/04/2019 13:14.
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Mitgehört: Musik aus dem Filter-Schwarm
Heute: Daniel Kujawa, Mode-Designer
Das Filter-Interview vom 08.04.2019
In seiner Kolumne „Mitgehört“ befragt Martin Raabenstein ganz unterschiedliche Menschen, was sie musikalisch umtreibt. Von prägenden Momenten bis zu aktuellen Highlights: Die Jukebox des Filter-Schwarms wird mit jeder Folge bunter. Dieses Mal: Daniel Kujawa. Traditionelle asiatische Schnitte liefern dem Mode-Designer die Inspiration für seine eigenen Kollektionen. Dabei spielt er mit dem Volumen und unterschiedlichen Schichten, um den Träger*innen soviel Freiheit wie möglich zu geben. Lockere Passformen und zum Teil verschlissen wirkende Strukturen bestimmen seinen Stil. Seine Entwürfe, so sagt er, sind ein gleichzeitiges Studium der Grenzen und der Freiheit, die die Bekleidung vorgeben. Wie entsteht solche Mode, bzw.: mit welcher Musik? Martin Raabenstein hat nachgefragt.
Lieber Daniel, stell dich doch zunächst kurz vor.
Geboren wurde ich in einer polnischen Kleinstadt nahe der russischen Grenze. Aus wirtschaftlichen Gründen zogen meine Eltern kurz nach meiner Geburt mit mir und meiner Schwester nach Deutschland – aufgewachsen bin ich in Essen, mitten im Ruhrpott. Dort habe ich auch Ausbildung als Bekleidungstechniker abgeschlossen. Währenddessen arbeitete ich bereits bei einer Designerin in Düsseldorf. Kurz nach meiner Ausbildung habe ich mich eher reflexartig selbstständig gemacht, bin wegen der Liebe nach Berlin gezogen und arbeite seitdem als Designer für mein eigenes Label.
Schön, dass du uns in deinen musikalischen Alltag schauen lässt. Bevor es damit losgeht: Woran arbeitest du gerade?
Ich versuche mal wieder, eine Kollektion auf die Beine zu stellen. Zur Zeit steht noch die Recherche im Vordergrund. Ich probiere viel aus, experimentiere mit Stoffen und neuen Formen – seit Langem beschäftige ich mich erstmals auch wieder mit Färben. Ich kann noch nicht genau sagen, was da entsteht. Zudem liegen noch viele Materialien rum, die benutzt werden wollen. Manche davon habe ich seit fünf Jahren nicht angefasst. Wunderschöne Wollstoffe zum Beispiel, aber auch Reste, die ich aus Japan mitgebracht habe. Details »
Published on 08/04/2019 13:40.
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Mitgehört: Musik aus dem Filter-Schwarm
Heute: Enrique Domenech, DJ und Beat-Sammler
Das Filter-Interview vom 25.03.2019
In seiner Kolumne „Mitgehört“ befragt Martin Raabenstein ganz unterschiedliche Menschen, was sie musikalisch umtreibt. Von prägenden Momenten bis zu aktuellen Highlights: Die Jukebox des Filter-Schwarms wird mit jeder Folge bunter. Dieses Mal: Enrique Domenech. Der Spanier lebt und mixt im spanischen Alicante. Seine große Liebe ist der Jazz. Und weil der in allen nur erdenklichen Genres seine Spuren hinterlassen hat, hört und spielt Enrique querbeet und wieder zurück. Hören kann man das in Clubs, im Radio und in seiner neuen Mix-Reihe „Freeforms“, für die er sogar ein grafisches Wegeleitsystem entworfen hat, damit sich die Beats nicht verlaufen. Und auch für uns hat er schwuppdiwupp noch einen exklusiven Mix gemacht.
Lieber Enrique, magst du dich zunächst kurz vorstellen?
Geboren bin ich 1972 in Alicante, Spanien. So ungefähr mit zwölf Jahren begann ich mich für Musik zu interessieren. Als 19-Jähriger fing ich an meine eigenen Mixe zu bauen, mit 22 legte ich dann in verschiedenen Clubs meiner Heimatstadt und in der Umgebung auf. Fünf Jahre später zog ich nach Dublin, nahm die Sache ernster, fing an intensiv Vinyl zu sammeln und hatte ab 2000 meine eigene Radioshow auf Power FM. Ab 2006 war ich verantwortlich für die Fusionova021 Records Radioshow, die auf Ibiza Sonica und diversen anderen Sendern in ganz Europa ausgestrahlt wurde. Kurze Zeit später verschlug es mich nach Ibiza, spielte regelmäßig im Café del Mar, aber auch zusammen mit Carl Craig, Richard Dorfmeister, Jazzanova, Biggabush und Ben Mono. Um das Management von José Padilla habe ich mich auch mal gekümmert. Seit 2011 lebe ich wieder in Alicante.
Schön, dass du uns in deinen musikalischen Alltag schauen lässt. Bevor es damit losgeht: Woran arbeitest du gerade?
Vornehmlich an meiner Podcast- bzw. Mix-Serie „Freeforms“. Ich interessiere mich für so viele unterschiedliche Arten von Musik, dass da dringend Ordnung rein muss. Ich habe mir dafür ein grafisches System ausgedacht, das mit geometrischen Formen arbeitet. So kategorisiere ich unterschiedliche Genres erst für mich selbst und dann für die Mixe. Das Dreiecks steht dabei für das, was ich „modern beats“ nenne – irgendwas zwischen HipHop, R&B und neuem Soul. Der Kreis dreht sich um eher klassische Tracks, da kommt dann auch Afro und Latin ins Spiel. Das Quadrat ist Stichwortgeber für den 4/4-Dancefloor. Und schließlich gibt noch eine weitere Kreisform, die aber grafisch eher gebrochen ist – hier versammle ich all das, was die Grundlage für Freeforms ist: Jazz. Details »
Published on 08/04/2019 13:35.
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Rewind: Klassiker, neu gehört
The Human League – Reproduction (1979)
Das Filter – Gespräch: Thaddeus Herrmann, Martin Raabenstein vom 18.03.2019
Nachdem Kraftwerk die britischen Motorways hoch und runter gefahren waren, begann die Jugend auch in Sheffield Ende der 1970-Jahre damit, dem Punk das Filter abzudrehen. Mittendrin: Martyn Ware und Ian Marsh, die als „The Future“ ebenjene Zukunft mit Synthesizern suchten. Wie die klingt, weiß man ja nie so genau. Gemeinsam mit dem Sänger Phil Oakey nahmen sie als The Human League den Klassiker „Being Boiled“ auf und fanden sich danach mit Major-Vertrag im Studio wieder, um ihr erstes Album aufzunehmen. „Reproduction“ floppte, wie das Album einer außerhalb Sheffields praktisch unbekannten Band mit tatsächlich futuristischer, aber nischiger Single nur floppen kann. Zwei Jahre später trennte sich das Trio. Oakey behielt den Namen der Band und wurde Popstar, Ware und Marsh gründeten Heaven 17 und taten es ihm gleich. „Reproduction“ gilt bis heute dennoch als tragende Säule der elektronischen Musik, made in Sheffield. Warum eigentlich? Fragen sich auch Martin Raabenstein und Thaddeus Herrmann. Denn während Cabaret Voltaire die poröse Gegenwart der nordenglischen Stadt in sägendes Sound Design verpackten, entwickelte sich bei The Human League ein popmusikalisches Konstrukt, das – wenn überhaupt – nur noch ob der Dystopie-informierten Texte nach Zukunft riecht. Ist dieses Album nun ein viel zu früh totgetrampeltes und missverstandenes zartes Pflänzchen der elektronischen Musik oder doch nur ein überhasteter Versuch, es allen recht zu machen?
Martin Raabenstein: „Reproduction“ ist ein Album, das hervorragend zu meiner These passt: Die besten 80er-Alben stammen aus den 70ern. Die waren meiner Meinung nach nämlich erst 1983 zu Ende. Spannend auch das Erscheinungsdatum – 1979, das Jahr des Amtsantritts Margaret Thatchers. Ihr glühender EU-Skeptizismus, der heute, vierzig Jahre später, noch zynisch mit schwelenden Wunden spielt, ist der eine, unverzeihliche Fehler der konservativ-irren Wuchtbrumme. Wie sie hingegen mit ihrem eigenen Land umging, vor allem dem Norden, ist irreparabel. Liverpool, Manchester, Leeds und Sheffield, die einstigen Industriegrößen des Vereinten Königreiches gingen zu Boden – Massenarbeitslosigkeit war die Folge. In diesem zutiefst rauen Klima entsteht der erste Release der Band. Sind die Briten nur gut, wenn es ums Kämpfen geht?
Thaddeus Herrmann: Sind sie denn jetzt aktuell auch wieder besonders gut?
Martin: Heute? Das ist für mich kein Kampf. Kulturelles Desinteresse und fehlgeleitetes politisches Kalkül umschleichen sich hier in einer üblen Scharade. So sehr ich den Begriff „Der kleine Mann“ auch hasse – dieser ist der Leidtragende, damals wie heute. Musikalisch spiegelte sich das vor 40 Jahren sicherlich um einiges deutlicher wieder. Dystopie und Science-Fiction waren wichtige Einflüsse – die kleine Flucht in übergroße, dunkle oder ferne zukünftige Welten. „Empire State Human“ ist da ein gutes Beispiel. Details »
Published on 18/03/2019 14:13.
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Mitgehört: Musik aus dem Filter-Schwarm
Heute: Thorsten Lütz, Label-Betreiber und DJ
Das Filter – Interview vom 11.02.2019
In seiner Kolumne „Mitgehört“ befragt Martin Raabenstein ganz unterschiedliche Menschen, was sie musikalisch umtreibt. Von prägenden Momenten bis zu aktuellen Highlights: Die Jukebox des Filter-Schwarms wird mit jeder Folge bunter. Dieses Mal: Thorsten Lütz aka Strobocop, der Macher des wunderbaren Labels Karaoke Kalk.
Lieber Thorsten, magst du dich zunächst kurz vorstellen?
Eigentlich bin ich so ein klassisches 1970er-Jahre-Gewächs. 1971 in Köln geboren, abgebrochenes Studium, dann diverse Jobs im Gastronomiebereich und ein Gastspiel als Praktikant und anschließend als freier Mitarbeiter beim dem nun nicht mehr existierenden Musiksender VIVA. 1997 habe ich dann mit Karaoke Kalk angefangen, bin 2003 nach Berlin gezogen und habe 2005 noch ein Sublabel, inzwischen eingestellt, namens Kalk Pets gegründet. Bis zum Ende der Nuller-Jahre war ich noch als semi-bekannter Dj unterwegs, um dann 2011 bei Manmade Mastering anzuheuern.
Schön, dass du uns in deinen musikalischen Alltag schauen lässt. Bevor es damit losgeht: Woran arbeitest du gerade?
Ich teile meine Zeit zwischen der Label-Arbeit und meinem Job hier bei Manmade, einem Studio für Mastering & Vinylschnitt in Berlin. Ich kümmere mich um die Administration. Also die Kommunikation mit unseren Kunden, Disposition und so weiter. Ziemlich praktisch, da ich auch mein Label-Büro dort habe. Ich kann fließend arbeiten und da Mike Grinser, einer der Inhaber, für das Mastering und den Schnitt von nahezu allen Kalk-Veröffentlichungen in den letzten Jahren verantwortlich ist, würde ich von einer fast perfekten Symbiose sprechen.
Was das Label betrifft arbeite ich gerade an der neuen Veröffentlichung des neuen Albums von Donna Regina, das am 22. Februar erscheint. Weiterhin an einem neuen Album des französischen Musikers Astrobal, der aktuell auch als Schlagzeuger von und mit Laetitia Sadier auf Tour ist. Sein Album „L’infini, l’Univers et les Mondes“ ist für Ende April geplant. Außerdem hat Mike gerade das neue Album von Il Tempo Gigante gemastert. Diese Veröffentlichung steht Ende Mai an.
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Published on 11/02/2019 15:26.
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Mitgehört: Musik aus dem Filter-Schwarm
Heute: Haru Specks, Vinylprediger
Das Filter – Interview vom 28.01.2019
In seiner Kolumne „Mitgehört“ befragt Martin Raabenstein ganz unterschiedliche Menschen, was sie musikalisch umtreibt. Von prägenden Momenten bis zu aktuellen Highlights: Die Jukebox des Filter-Schwarms wird mit jeder Folge bunter. Dieses Mal: Haru Specks. Mit seinen musikalischen Themenabenden ist er die weltweit erste Playlist aus Fleisch und Blut.
Das Filter berichtete schon im April 2014 über die „Vinylpredigten“ von Haru Specks aka Diethelm Kröhl. Unterwegs ist er mit der Idee nach wie vor. Das nächste Mal bereits diese Woche: am 30. Januar im Sixpack in Köln. Specks selbst beschreibt diese Abende als „keinen DJ-Act, nichts zum Tanzen, kein Hintergrundgeräusch sondern eine Auseinandersetzung mit unseren Leben und das der Leben unzähliger Musiker und deren Kunst. Die Vinylpredigt ist kein Frontalunterricht, sondern ein Experiment. Das Thema, die Songs, der Raum, die Gäste ergeben jedes Mal eine einzigartige Anordnung. Zwischenrufe sind erlaubt, Dialog ist wichtig. Denn der Vinylprediger ist ein Individuum, ein Subjekt, kein allwissender Halbgott, kein unangreifbarer diplomierter Checker. Er ist angreifbar und auch widerlegbar.“
Lieber Haru, magst du dich zunächst kurz vorstellen?
Ich wurde Anfang der 1960er-Jahre im süddeutschen Raum geboren. Die Eltern mehr oder weniger einfache Arbeiter. Ich schummelte mich durch das Leben, um eine vermeintliche Karriere im Medienbereich zu führen. Vor einigen Jahren hatte ich dann genug davon und versuche seitdem ein Leben zu führen, welches mir behagt. In der Kurzfassung suche ich nach Wahrheit, Schönheit und Güte.
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Published on 28/01/2019 12:27.
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Rewind: Klassiker, neu gehört
Nick Drake – Five Leaves Left (1969)
Das Filter – Gespräch: Thaddeus Herrmann, Martin Raabenstein vom 16.01.2019
1969 passierte das, was in der Geschichte der Tonträger praktisch jeden Tag passiert: Ein junger Mensch veröffentlicht ein Album, und kaum jemand interessiert sich dafür. Zu diesem Zeitpunkt war Nicholas Rodney Drake 21 Jahre alt – fünf Jahre später war er tot. Heute gilt der Engländer als einer der einflussreichsten Singer/Songwriter aller Zeiten. Drei Alben nahm er in dieser kurzen Periode auf und stürzte tief in den Tunnel der drei großen Ds: Drugs, Depression, Death. Martin Raabenstein und Thaddeus Herrmann legen schweren Herzens das Debüt von Nick Drake auf. Und geben sich einem Crooner hin, dessen minimal arrangierte Stücke noch heute so kraftvoll fließen, dass sie den Künstler schon längst im Paradies haben an Land gehen lassen.
Martin Raabenstein: Die wenigen Werke von Nick Drake sind in meinem Kopf eng miteinander verbunden, sie verbleiben eher wie ein in sich verschlungenes Triple-Album als drei unabhängige Releases, wenn auch die Grundstimmungen sehr unterschiedlich sind. Da ich irgendwann aufgehört habe, mich für die Beipackzettel von Alben zu interessieren, war es für mich umso mehr verwunderlich, dass Drake schon 1968 mit den Aufnahmen zu „Five Leaves Left“ begann. Ich hätte diese Platten musikalisch eher in den Mitsiebzigern verortet.
Thaddeus Herrmann: Das ist deine Epoche, ich bin da auch auf deine Expertise angewiesen. Warum also würdest du das Album zeitlich später einsortieren?
Martin: Das ist nicht und klingt auch nicht wie die Sechziger. Hier steckt eine andere, sich nach mehr sehnende Kraft dahinter. So kommen wir gleich vom Start weg gleich auf Drakes Grundproblem – seine Depression. Wie er auf diesem Album vorgeht, macht man das eigentlich erst in den Siebzigern, getrieben von einer unendlichen Traurigkeit. Vorgetragen mit entrückter, unverhallter Stimme, die sich von der Gitarre umwickeln und mittragen lässt, einem dunklen Nichts entgegen.
Thaddeus: Dann haben wir es hier ja mit einem echten Pionier zu tun, der – das ist mein Gefühl – jedoch nie ein Pionier sein wollte. Seine Vita liest sich, als wäre ihm die Musik schon wichtig gewesen, es ihm aber im Traum nicht eingefallen wäre, daraus so etwas wie eine Karriere zu entwickeln. Was ihm faktisch ja auch erst posthum geglückt ist. Alle drei Platten waren finanzielle Flops, die Kritiken mau, Airplay war praktisch nicht existent. Nur John Peel hat es gespielt. Gereicht hat ihm das natürlich nicht, also entwickelte er eine Art renitente Haltung gegenüber dem Business. Zurück bleibt die Musik. Und die ist auf diesem ersten Album doch sehr auf den Punkt und gelungen – in aller Stille. Details »
Published on 16/01/2019 12:25.
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Mitgehört: Musik aus dem Filter-Schwarm
Heute: Yiqing Zhang, Kindergärtner aus Shanghai
Das Filter – Interview vom 14.01.2019
In seiner Kolumne „Mitgehört“ befragt Martin Raabenstein ganz unterschiedliche Menschen, was sie musikalisch umtreibt. Von prägenden Momenten bis zu aktuellen Highlights: Die Jukebox des Filter-Schwarms wird mit jeder Folge bunter. Dieses Mal: Yiqing Zhang. Vor wenigen Jahren wagte der Chinese den beruflichen Neustart, hing das Dasein als Berater an den Nagel und gründete einen Kindergarten.
Lieber Yiqing, magst du dich zunächst kurz vorstellen?
Ich leite einen Kindergarten in Shanghai. Ursprünglich komme ich aber aus einer ganz anderen Richtung. Zunächst war ich Journalist bei einer Wochenzeitung, zuständig für die Bereiche Kultur und Gesellschaft. Dann war ich Analyst in einer Beratungsfirma, die sich mit dem kulturellen Transfer zwischen Europa und China auseinandersetzte. Hauptsächlich ging es dabei um die Autobranche und Erziehung. Der Unterschied zwischen der traditionellen chinesischen Form der Erziehung und der westlich-geprägten Waldorf-Idee, den ich dadurch mitbekam, brachte mich dazu zu überlegen, wie wichtig die frühe Kindheit für die weitere Entwicklung des Menschen sein kann – eine starke Inspiration, einen eigenen Kindergarten zu gründen. Das hat eine ganze Weile und verschiedene Seminare in dieser Richtung gedauert.
Seit ich täglich mit Kindern arbeite, hat sich meine Sicht auf die Welt geändert. Das liegt nicht nur daran, dass man mit den Kleinen Zeit verbringt, sondern auch wie man sie mit Musik, Malerei, Basteln und anderen künstlerischen Beschäftigungen an die kleinen und großen Aufgaben des Lebens heranführt. Ich lebe in Shanghai, einer Mega-City mit 30 Millionen Einwohnern – das eröffnet einerseits jede Menge Möglichkeiten, ist aber auch sehr fordernd. Ich mag die Geschwindigkeit und den Lärm am Tage, brauche aber meine ruhige Vorortwohnung, um wieder runterzukommen, Frieden zu genießen. Da ich in einer kollektiven Gesellschaft lebe, benötige ich diese persönliche Unabhängigkeit. Ich habe sie noch nicht wirklich erreicht, bin aber weiterhin auf der Suche nach einem guten Weg dahin.
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Published on 16/01/2019 12:19.
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Rewind: Klassiker, neu gehört
Fennesz – Black Sea (2008)
Das Filter– Gespräch: Thaddeus Herrmann, Martin Raabenstein vom 07.12.2018
Auch der „Endless Summer“ ist mal vorbei. Mit dieser Platte hatte der Wiener Christian Fennesz sich selbst und der Gitarrenmusik ein Denkmal gesetzt, die Frippertronics erst angezählt und dann hinter der Granularsynthese zu Staub zerfallen lassen. Sieben Jahre, zwei Solo-Alben und zahlreiche Kollaborationen (zum Beispiel mit David Sylvian und Ryuichi Sakamoto) später entfaltet sich auf „Black Sea“ eine Art ästhetisches Best-of eines Musikers, der zwischen Drones, Ambient, Field Recordings und sinfonischen Anleihen die Tiden des verbrieften musikalischen Status Quo am Schlick packt. Martin Raabenstein und Thaddeus Herrmann kippen auf ihrer Reise nach Drone-City zunächst rein symbolisch alte Plug-Ins in den Ausguss der Geschichte, um schließlich im Fahrstuhl des Schlussakkords ein paar Vorstadttränen zu verdrücken.
Martin Raabenstein: Die Kombination Gitarre/Computer ist ureigenstes Fennesz-Feld. Ist der Komponist mit seinem vierten Studioalbum „Black Sea“ auf der Suche nach dem sinfonischen Drone?
Thaddeus Herrmann: Zunächst ist die Musik von Fennesz ja der einzige Heavy Metal, den ich mag. Ich hatte das Album wirklich lange Zeit nicht mehr gehört und zog dann in der Vorbereitung den direkten Vergleich mit dem Vorgänger – „Venice“ – von 2004. In diesen Jahren ist tatsächlich viel passiert im granulierten Nirgendwo zwischen MAX/MSP und Fender. Die Tracks wirken auf mich … durchdachter? Zumindest unaufgeregter und mit weniger Spitzen. Bis auf das Intro natürlich, aber danach entsteht eine fein wogende See der Stille. Die ganz viel von dem beinhaltet, was in den Jahren zuvor durch die Musikgeschichte gerauscht war und Eindruck hinterlassen hatte. „Black Sea“ wirkt wie ein Schlussakkord für diese Phase. The End.
Martin: Also mal wieder das Ende einer Ära. Ich habe für dieses Album keine romantischen Erinnerungen. Fennesz war damals nicht auf meinem Teller, obwohl „Cendre“ von Fennesz & Sakamoto schon ein Jahr früher erschien und bei mir am äußeren Rand der Aufmerksamkeit auftauchte. Zehn Jahre später finde ich nur noch eine leise Ahnung vor, warum mich das damals bewegt haben könnte, aber immerhin – das Werk taugt noch wunderbar als musikalische Untermalung für nebenbei. Eigenartigerweise empfand ich diese steigende Distanz gerade vor kurzem schon einmal – zu dieser Art Musik, der Zeit und allem, was sich daraus entwickelte. Mein neuerlicher Versuch, Fluid Radio zu hören, war wohl wirklich der letzte. Vieles davon hat sich für mich zu einer Art intelligenter Fahrstuhlmusik entwickelt. Gar nicht schlecht im eigentlichen Sinne, ein nicht unangenehmes Grundrauschen.
Thaddeus: Na, in dem Fahrstuhl würde ich ja gerne stundenlang cruisen. Mein Verhältnis zu Fennesz und seiner Musik ist aber auch ein bisschen atypisch. „Endless Summer“ hat mich nie interessiert. Die ganze Wiener Blase hat mich nie interessiert. Das war für mich zum Großteil immer genau die PowerBook-Musik, die die Welt nicht gebraucht hat. Aber dankenswerter Weise legte sich im Kopf von Fennesz irgendwann ein Schalter um, der mich dann ins Boot holte. Auch die Zusammenarbeit mit Sakamoto halte ich für mehr oder weniger belanglos. Wir hören hier meinem Empfinden nach die Essenz eines über Jahre entwickelten und verfeinerten Ansatzes, der nicht zuletzt dank der stetig besser werdenden Technologie zu etwas Großem gewachsen ist. Auf der Welle kann man schon mal ein paar Jahre reiten. Oder eben im Fahrstuhl fahren. Auf und ab, auf und ab, auf und ab: Die Metapher passt ja sowohl zur See als auch zum Hochhaus.
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Published on 07/12/2018 15:40.
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Rewind: Klassiker, neu gehört
Max Richter – 24 Postcards In Full Colour (2008)
Das Filter – Gespräch: Thaddeus Herrmann, Martin Raabenstein – 05.11.2018
Es gab eine Zeit, in der war Max Richter noch indie. Damals schrubbte der britische Komponist nicht Soundtrack nach Soundtrack, sondern war vielmehr dabei, seine musikalischen Ideen Schritt für Schritt und sehr sachte zu entwickeln – auf „130701“, einem kleinen Sublabel des Techno-Imperiums „FatCat“. Und beschäftigte sich mit den Dingen, die damals eben Thema waren – Klingeltöne zum Beispiel. Sein Album „24 Postcards In Full Colour“ war die Antwort auf Abzocker-Abos von Jamba und Co. 24 kurze Snapshots, mit denen bimmelnde Telefonen ihre plärrende Würde wiedererlangen sollten. Zehn Jahre später vereinbaren Raabenstein und Herrmann erst telefonisch einen Termin, klären, wer von den beiden nun Mozart und wer Bach ist und lassen es klingeln. Also laufen. Jóhann Jóhannsson hört auch irgendwie zu. Aber das ist bei Max Richter ja nun wirklich keine Überraschung.
Martin Raabenstein: Du sagst, du kommst in das Album nicht so richtig rein. Warum?
Thaddeus Herrmann: Das ist der dann doch recht speziellen Form geschuldet. Es ist ja kein Album im herkömmlichen Sinn. Dass wir beide uns nochmal über Klingeltöne unterhalten würden … toll!
Martin: Dieses Nicht-Album ist aber ein eindeutiger Richter. Mit allem was den Max sonst so ausmacht. Möglicherweise ist genau hier, in der Verknappung, des Komponisten wahre Seele zu spüren?
Thaddeus: Ein absolut eindeutiger Richter, gar keine Frage. Und natürlich schon ein Album, nur eines, das für mich nicht als solches funktioniert. Und von Richter – glaube ich – auch nicht so gedacht ist. Denn es ist ja tatsächlich seine Auseinandersetzung mit dem Thema Klingelton – 2008 war das ein großes Thema auf den Telefonen da draußen. 24 kurze – sehr kurze Stücke, Ideen, Skizzen. Hier spielt die Reihenfolge keine Rolle, am besten hört man das im Shuffle-Modus oder sucht sich seine Lieblinge raus, lädt sie sich auf das Telefon und hofft, ganz viele SMS oder Anrufe zu bekommen. Für einen Komponisten schon ein interessanter Schritt. Ich mag das. Weil: Wenn man es einfach durchhört, wird man ja immer wieder rausgeworfen. Um in der Metapher zu bleiben: Es ist ein einziger Verbindungsabbruch. Es gibt so gut wie keine Blenden, Stücke fangen an, hören drastisch und radikal auf, Pausen zwischen den Tracks scheinen willkürlich. Man hüpft von Pfütze zu Pfütze.
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Published on 06/11/2018 14:43.
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Rewind: Klassiker, neu gehört
Jóhann Jóhannsson – Fordlandia (2008)
Das Filter – Gespräch: Thaddeus Herrmann, Martin Raabenstein – 11.10.2018
Am 9. Februar 2018 starb Jóhann Jóhannsson. Zu diesem Zeitpunkt war aus dem isländischen Komponisten nach einer knapp 20-jährigen Karriere ein Weltstar geworden – überhäuft mit Auszeichnungen, vor allem für seine Soundtracks immer größerer Hollywood-Produktionen. Wer hätte 2002 schon damit gerechnet, dass aus dem Künstler, der damals auf dem wundervollen, aber doch auch sehr kleinen Londoner Touch-Label sein erstes Album „Englabörn“ veröffentlichte, mal der werden würde, der die Cinemaxx-Leinwände orchestriert? Seine Fans haben es ihm vielleicht gewünscht, insgeheim aber auch gehofft, dass es nie dazu kommen würde. Denn in Jóhannssons Musik lebte hinter der großen Geste auch immer die kleine ausgestreckte Hand, die man mit niemandem teilen wollte – schon gar nicht den Filmstudios. Jóhannssons Begabung, klassische Musik alles andere als klassisch klingen zu lassen, resultierte in den folgenden Jahren in gleich mehreren Alben, die heute – ja – Klassiker sind. Klassiker eines Genres oder einer Idee, die bis heute keinen Namen hat und auch nicht verdient hätte: Wer seiner Zeit voraus ist, muss sich nicht mit den Nachzüglern gemein machen. „Fordlandia“ ist eines dieser Alben. Martin Raabenstein und Thaddeus Herrmann hören mucksmäuschenstill zu.
Martin Raabenstein: Kann man „Odi et Amo“ von Jóhannssons 2002er-Album „Englabörn“ eigentlich noch toppen? Wenn auf dem ersten Soloalbum schon der erste Track die Latte so himmelhoch hängt, wie kommt man da in Folge immer wieder drüber?
Thaddeus Herrmann: Du warst später ja ganz optimistisch. Und ich überhöre diese Frage lieber – mir fehlt die passende Antwort. Ich schätze „Englabörn“ sehr, purzele aber ohnehin immer ganz tief in Jóhanns Platten hinein, wenn ich sie wieder von Neuem höre. So ging es mir auch hier. Der Opener und der Closer – die beiden Versionen des namensgebenden Themas – bilden eine derart starke Klammer, dass es mir fast schon egal ist, was dazwischen passiert. Und mich auch ausblenden lässt, dass Jóhannsson Henry Ford zum Sujet der Platte macht.
Martin: Lustig, dass du dich an diese Review erinnerst, lang, lang ist’s her. Ein paar Alben, also Jahre später, bin ich da dezent kritischer. Gerade die von dir erwähnten Tracks sind mein schmerzender Zahn.
Thaddeus: Hab ich es doch gewusst!
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Published on 11/10/2018 11:01.
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Rewind: Klassiker, neu gehört
Talk Talk – Spirit Of Eden (1988)
Das Filter – Gespräch: Thaddeus Herrmann, Martin Raabenstein – 27.06.2018
Auf diesem Album warfen Mark Hollis, Paul Webb, Lee Harris und Produzent Tim Friese-Greene alle Zweifel über Bord, kehrten das Innerste nach Außen und setzten dem „Prinzip Talk Talk“ eine stille und berührende Krone auf. Dass sich die Band, die mit Songs wie „Such A Shame“, „Living In Another World“ oder „Life’s What You Make It“ der Popwelt Momente der Bedeutsamkeit geschenkt hatte, auf dem Weg in die musikalische Meditation befand, war abzusehen. Doch die sechs Stücke auf „Spirit Of Eden“ hallen bis heute, 29 Jahre und zehn Monate nach der Veröffentlichung, auf beeindruckende Art und Weise nach – kraftvoll und einzigartig. Martin Raabenstein und Thaddeus Herrmann sind sich einig wie selten, beamen sich in das Aufnahmestudio, legen sanft das Kinn auf Mark Hollis’ Schulter und summen leise mit: „Take My Freedom For Giving Me A Sacred Love.“
Martin Raabenstein: Von „It’s My Life“ zu „Spirit Of Eden“ ist es ein langer Weg. Jedoch: Gerade mal vier Jahre liegen dazwischen. Was für eine Entwicklung.
Thaddeus Herrmann: Wir sind ja hier quasi live dabei, wie eine Band zerfällt. „Spirit Of Eden“ – das ist ja vor allem nur noch das Zusammenspiel von Mark Hollis und Tim Friese-Greene, der später zu Talk Talk dazugestoßen war. Paul Webb und Lee Harris spielen noch mit, werden aber wie die zahlreichen anderen Gäste vom Kreativ-Duo dirigiert. Über die Gründe dieses doch schnellen Wandels im Sound kann ich nur spekulieren. Das Album ist das Ergebnis endloser Jams, die dann zu Stücken verarbeitet wurden. Keine Konzerte, nur ein Video, das Hollis scheiße fand. Künstlerische Evolution vs. Verweigerungshaltung dem Pop-Business? Was meinst du? Was wiegt schwerer? Details »
Published on 29/06/2018 09:47.
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